Schweizer Fussball: Kopflos oder verblendet

Nr. 4 –

Ein Tschetschene, der einen Schweizer Traditionsverein ruiniert – so liest sich das Ende von Neuchâtel Xamax. Doch die Gründe für die Probleme des Schweizer Fussballs liegen nicht im Kaukasus.

Im April 2011 übernahm Bulat Tschagajew den Fussballklub Neuchâtel Xamax. Seither hat die Schweiz ihren Tschetschenen. Ob Tschagajew seinen Spielern Gewalt androhte, den Trainer am Kragen packte, Angestellte feuerte, mit vulgären Gesten Tore bejubelte, Verträge missachtete, Fragen nach seinem Vermögen in den Wind schlug oder eine dilettantisch gefälschte Bankgarantie vorlegte: Immer wurde sein Verhalten an seine Herkunft gekoppelt. Vom Kaukasus in die Super League – das kann nicht gut gehen.

Und siehe da: Es ging nicht gut. Am 18. Januar entzog die Disziplinarkommission der Swiss Football League (SFL) Xamax die Lizenz. Tschagajew, dessen Angestellte seit Monaten auf ihre Löhne warten, war den Beweis für seine Zahlungsfähigkeit auch nach mehrfacher Aufforderung schuldig geblieben. Xamax scheidet aus der laufenden Meisterschaft aus und steht unmittelbar vor dem Konkurs.

Zügellosigkeit und Selbstbetrug

Der spektakuläre Fall des «Tschetschenen» verleitet dazu, die strukturellen Probleme im Schweizer Profifussball dem Engagement von «ausländischen Investoren» zuzuschreiben. Doch rüpelhaftes Benehmen und undurchsichtige oder betrügerische Geschäftsführung sind im Schweizer Fussball nicht Ausländern vorbehalten. So ging der Präsident des SC Zug, Werner Hofstetter, bereits 1984 nach einer Niederlage seinem Trainer Ottmar Hitzfeld in der Kabine an die Gurgel. Und verglichen mit den Beträgen, die die Vereinspräsidenten Helios Jermini (Selbstmord 2002) beim FC Lugano oder Andreas Hafen (Verhaftung 2002) beim FC Wil veruntreut haben, wirken Tschagajews Verfehlungen nur noch durchschnittlich.

Fälle wie jener von Xamax lassen sich nicht mit einem vermeintlichen Ausländerproblem erklären. Vielmehr sind sie Ausdruck eines Systems, in dem Zügellosigkeit, Impulsivität, Irrationalität und Selbstbetrug feste Bestandteile sind. Der SFL kommt in ihrer Funktion als Organisatorin der höchsten beiden Fussballwettbewerbe die Rolle der Bändigerin zu – eine schwierige und oftmals undankbare Aufgabe. Sie hat dafür zu sorgen, dass die Meisterschaften der Super League und der Challenge League mit den dafür sportlich qualifizierten Teams stattfinden. Gleichzeitig muss sie sicherstellen, dass die jeweiligen Klubs zu Saisonbeginn finanziell genügend abgesichert sind, um bis zum Schluss der Meisterschaft durchzuhalten. Dafür verlangt sie im Voraus ein detailliertes, realistisches Budget, eine Jahresrechnung der Vorsaison sowie im Lauf der Meisterschaft regelmässige Belege für Lohnzahlungen. Nach den Zwangsabstiegen und Konkursen von Lugano, Lausanne, Sion und Servette Anfang des Jahrtausends hat die SFL ihr Lizenzwesen so reformiert, dass es heute zu den strengsten in Europa zählt.

«Das Messer am Hals»

Die Mehrheit der Schweizer Klubs kämpft mit chronischen Geldsorgen. Was in grösseren Ligen Haupteinnahmequellen sind, nämlich Fernsehgelder und Matchtickets, fällt in der Schweiz dürftig aus. Die Ansprüche des Publikums und die Kampagnen der Boulevardmedien aber halten internationalen Vergleichen durchaus stand. Muss ein Verein um den Klassenerhalt kämpfen, wird es ungemütlich. «Im Unterschied zu einem normalen Unternehmen, wo Sie in schlechten Zeiten mit der Produktion herunterfahren oder Kurzarbeit einführen können, haben Sie bei einem drohenden Abstieg sofort das Messer am Hals», sagt Michael Hunziker. Der Rechtsanwalt war von 2002 bis 2006 Präsident des FC Aarau und später Mitglied der Lizenz-Rekurs-Kommission der SFL, er kennt das Geschäft von beiden Seiten. Abstiegsbedrohte Klubs würden sich durch teure Trainerwechsel und hektische Transfers verschulden, statt einen kühlen Kopf zu bewahren. Dabei sei es besser, gesund abzusteigen, als verschuldet oben zu bleiben, sagt Hunziker. «Wer bei uns einmal im Loch ist, kommt kaum mehr heraus.»

Der Kopflosigkeit im Tabellenkeller entspricht die Verblendung in der oberen Tabellenhälfte: Lockt der Aufstieg oder der Europacup oder dürstet das Publikum nach Titeln, brennen gerne die Sicherungen durch. Mit der grossspurigen Ankündigung einer neuen Epoche – bei den Berner Young Boys sind es die mittlerweile berüchtigten «Phasen» – wird neues Personal präsentiert und Erfolg als kalkulierbar verkauft. Von der Champions League schwadronierend, bewegte sich Bulat Tschagajew haargenau auf dieser Linie, bloss hat er sich in seiner wie auch immer ausgereiften Analyse des Schweizer Profifussballs grandios vertan.

Anspruch und Wirklichkeit klaffen vielerorts und regelmässig auseinander. So auch beim durch und durch schweizerischen FC St. Gallen, wo nach dem Umzug ins neue Stadion statt der erhofften Europacup-Nächte Abstieg und Millionenschulden die Agenda bestimmten. Welcher Teufel die Verantwortlichen damals geritten hat, lässt sich nur erahnen: «In seiner Loge hoch über dem Rasen der AFG-Arena pflegt Edgar Oehler die Symbolik. Wenn die Mannschaft des FC St. Gallen gut spielt, brennt das Licht grün. Wenn sie schlecht ist, wechselt es auf rot», schrieb die «SonntagsZeitung» 2008 über den Ostschweizer Stadionpatron.

Die jüngere Geschichte des Schweizer Fussballs ist reich an Mahnmalen. Und doch hält Michael Hunziker fest: «Wer im Fussball rational handelt, hat einen schweren Stand. Der Druck von Fans und Medien ist enorm.» Vor zehn Jahren hat Hunziker den maroden FC Aarau saniert und dabei unter anderem die U-21-Mannschaft aufgelöst. Sie sei schlicht nicht mehr zu finanzieren gewesen. «Damit habe ich mir keine Freunde gemacht», sagt Hunziker heute. Auch Andreas Mösli, Geschäftsführer des FC Winterthur, weiss um die Macht der Träume: «Der FCW ist ein urbaner Verein, wir spielen in einer Stadt von 100 000  Einwohnern, haben überdurchschnittlich viele Zuschauer für die Challenge League – da gibt es natürlich Erwartungen.» Mösli hält vor diesem Hintergrund die strengen Auflagen der SFL-Lizenzkommission für gerechtfertigt: «Sie zu erfüllen, bedeutet für uns zwar einen enormen Aufwand, aber das ist in Ordnung. Es ist schliesslich die einzige Möglichkeit für die SFL, die Vereine zu kontrollieren.»

Wer Geld verspricht, ist willkommen

In einer notorisch klammen Liga ist es einfach, an die Spitze eines Vereins und damit ins Rampenlicht zu kommen. Das zieht Leute mit Geltungssucht an, und darunter leidet Bulat Tschagajew offensichtlich – sei er nun «Milliardär» («20 minuten») oder «Hochstapler» («Blick»). Wer zahlt oder verspricht zu zahlen, ist herzlich willkommen. In Neuenburg geht das gern vergessen, wenn dieser Tage das Ende des Vereins beweint und «Bulat» verteufelt wird. Die Xamax-AktionärInnen hatten dem Verkauf vor Jahresfrist fast geschlossen zugestimmt, mangels Alternativen. Wer sich in Neuenburg auskannte, wusste um die Perspektiven des Klubs: Er war für einen Super-League-Verein längst zu unbedeutend geworden. «Da hilft auch der Verweis auf die erfolgreichen 1980er Jahre nichts», so Michael Hunziker. Die Verhandlungen zwischen dem alten, seines teuren Spielzeugs überdrüssigen Besitzer, Sylvio Bernasconi, und dem fremden Käufer Tschagajew sollen laut «Le Matin» lediglich ein paar Stunden gedauert haben; genug für einen Bauchentscheid.

Seit dem Konkurs von Servette im Jahr 2004 musste sich die Liga von keinem grossen Verein mehr verabschieden. Warum hat das rigide Kontrollsystem diesmal nicht gegriffen? «Was mit Xamax passiert ist», sagt Michael Hunziker, «kann man nicht verhindern. Wenn einer in seinem Unternehmen viel mehr ausgibt, als er einnimmt, geht er irgendwann Konkurs. Egal in welcher Branche.» Weil der Handwechsel bei Xamax während der laufenden Saison erfolgte und die Überprüfung des neuen Besitzers nicht im gewünschten Mass möglich war, will die SFL nun ihr Lizenzreglement weiter verschärfen.

Die Kontrolle wird verfeinert, doch das Problem bleibt bestehen: Der Fussball wird weiterhin zu einem gewichtigen Teil impulsgesteuert bleiben. Sponsoren werden zahlen, weil ein neuer Stürmer Lustgewinn und Schlagzeilen verspricht. Gönner werden in letzter Sekunde Überweisungen tätigen, damit die SFL die Lizenz erteilt. Arrivierte Geschäftsleute werden sich zu Vereinspräsidenten wählen lassen, weil die Stadt in ferner Zukunft den Bau eines neuen Stadions verspricht. Und die Fans schlucken den Aufschlag auf die Saisonkarte, damit dem Alt-Internationalen seine Hunderttausend im Monat bezahlt werden können. Genau das aber gehöre zum Wesen des Sports, sagt der Winterthurer Andreas Mösli: «Die Öffentlichkeit, die Fans, die Boulevardmedien, sie alle sind als Teil des Systems unabdingbar, indem sie die Geschichten am Kochen halten. Sie verhindern Langeweile. Darum sind Irrationalität und Emotionen eben auch ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor.»

Wenn Bulat Tschagajew auch entschieden zu weit gegangen ist: Sein Einsatz für und vor allem gegen Neuchâtel Xamax hat die Swiss Football League in der Winterpause auf die Titelseiten und in die Hauptausgabe der «Tagesschau» gebracht. Das mögen einige als imageschädigend beklagen. Langfristig aber gehört die Geschichte um den sonderbaren Investor zum geistigen Kapital des Schweizer Fussballs, zum nie enden wollenden Drama um verschossene Elfmeter, veruntreute Millionen und verscherbelte Jungtalente. Der Fussball hat etwas Durchgeknalltes, der Irrsinn sitzt in seinem Kern. Bulat, der Tschetschene, hat uns bloss daran erinnert.