Sandra Hughes: «Zimmer 307» : Kindfrau in höllischen Zeiten

Nr. 6 –

Teuflisch gut erzählt: In ihrem dritten Roman rückt die Schweizer Autorin Sandra Hughes einer entwurzelten Frauenfigur auf den Leib – und zerlegt genüsslich tradierte Frauen- und Männerrollen.

Bücher von Sandra Hughes zu lesen, das heisst, in eine Welt hineingeworfen zu werden, aus der es kaum mehr ein Entrinnen gibt. Eine Geschichte auf Leben und Tod: Das ist auch der dritte Roman «Zimmer 307» der in Allschwil bei Basel lebenden Schriftstellerin.

Felicitas heisst die (Anti-)Heldin, die wir hautnah durch himmlische und vor allem höllische Zeiten begleiten. Das ist intensiv und anstrengend: Denn «Feli», eine kindliche Frau, ist eine Zumutung. Sollen wir sie in die Arme nehmen und trösten? Oder wollen wir sie schütteln und rütteln ob der masochistischen Obsession, mit der sie ihren verwegenen Prinzen verfolgt, die Projektionsfläche für ihre panische Suche nach Glückseligkeit?

Zunächst erlebt Feli eine ganz normale Kindheit in Norddeutschland – seltsam ist nur, dass ihre geliebte Grossmutter Aurora sie mit heisser Schokolade und frischen Krabben füttert. Abrupt aus dieser Wohlbehütetheit wird das Mädchen gerissen, als es mit ihrer alleinerziehenden Mutter Heike zu deren neuem Mann Ron in die Schweiz zieht. Felis neues «Zuhause» in einer armseligen Wohnung in einer trostlosen Siedlung erweist sich sehr bald schon als eine Hölle von Gewalt, Alkohol und Depression. Doch eigentlich ist das erst die Vorhölle.

Vom einen Leben ins andere

Feli, der eigentlich eine Karriere als Springreiterin oder Designerin von Teetassen gewinkt hätte, flüchtet sich in die Arbeitswelt. Sie gibt die tadellose Rezeptionistin und schafft es dann später sogar zum Sales-Manager in Hotels auf der halben Welt.

Doch dann begegnet sie im Oberengadin dem Mann ihres Lebens. Der mit einem mystischen Hauch umgebene Domenico Salatina, Typ ultimativer Verführer, hat langes schwarzgelocktes Haar und trägt eine magische goldene Kette – auf dem Medaillon sind Maria und das Jesuskind abgebildet.

So wahnsinnig umwerfend ist der Gast von Zimmer 307 dann doch wieder nicht: Der Ökonom, Philosoph und «Professor der Globalisierung», gelernter Fliesenleger, der als Hilfspfleger jobbt und sich nebenher auch noch als «erfolgloser Schriftsteller» betätigt, gibt zwar den Lebenskünstler, mutet jedoch eher wie ein charmanter Taugenichts an. Die Amour fou wird, abgesehen von wenigen himmlischen Momenten, zur zweiten Vorhölle für Feli.

So viel zum einen Schauplatz in «Zimmer 307»: der diesseitigen Welt. Die andere Welt beziehungsweise ihr zweites Leben, das Leben nach dem Leben also, eröffnet sich, als Domenico ihr den Laufpass gibt. Feli schneidet sich die Pulsadern auf und landet in einer Art Anstalt, in der – ganz jenes «gewinnorientierte Wirtschaftssystem», das in dieser Unterwelt zumindest rhetorisch verpönt ist – Disziplin, Leistung und Effizienz vorherrschen und der «Boss» der grosse Unbekannte ist.

Feli überwindet ihren Liebesfrust und macht Karriere. Sie schafft es vom Mädchen vom Dienst in der Abteilung Supervision F für «Selbstmörderinnen, Nutten und Betrügerinnen» bis zur Geschäftsführerin der sadistischen Abteilung Ideal Recycling M mit dem Ziel, «Männer zur Hölle zu schicken» – solche nämlich, «die in ihrem früheren Leben Dokumente und Schecks fälschten, hohe Boni einstrichen, Steuern hinterzogen, arme Schlucker um ihre Rente betrogen, ihre Frauen hintergingen». Doch dann taucht wieder dieser verfluchte Domenico auf …

«Zimmer 307» ist rasant und teuflisch gut erzählt, hoch intensiv und zuweilen von einer grandiosen Deftigkeit. Genüsslich karikiert und zerlegt die Autorin tradierte Frauen- und Männerrollen: hier die lebensuntaugliche, hörige und zuweilen hysterische Feli, dort der selbstverliebte, verführerische Domenico.

Geboren mit einem Hasenherz

Doch gibt es auch noch eine ganz andere Stimmung in diesem Theater der Liebe: Unter Felis angsterfüllter Tadellosigkeit steckt ein verletzliches Kind, dem die elterliche Geborgenheit aus einer Laune des Schicksals heraus nicht vergönnt war – jene Zugehörigkeit, die zwei Elternteile, Mutter und Vater, zusammen hätten aufbringen müssen. «Ich war mutlos geboren worden, zum Verlassenwerden bestimmt. Ich gab meinem Vater die Schuld. Er war gegangen, ohne mich erst anzusehen. Bei so einer bleibt keiner. Er hatte mir ein Hasenherz verpasst, klein und ängstlich.»

Die Chancen dieser «Entwurzelten» auf Glück stehen also nicht gerade zum Besten. Wäre da nicht ausgerechnet Domenico, der meint: «Was trauerst du einem Vater nach, der sich nie um dich kümmerte? Wieso sollte einer eine Lücke hinterlassen, der nie da war?» Vielleicht lernt Feli ihre Lektion ja doch noch.

Buchvernissage am Donnerstag, 9. Februar, 19 Uhr, im Literaturhaus Basel. Weitere Lesungen: Buch Wigger in Allschwil, Freitag, 17. Februar, 19.30 Uhr; Coalmine in Winterthur, Mittwoch, 7. März, 20 Uhr.

Sandra Hughes: Zimmer 307. Dörlemann Verlag. Zürich 2012. 184 Seiten. Fr. 27.50