«Extremely Loud And Incredibly Close»: Ein Himmel voller Geigen

Nr. 7 –

Stephen Daldry strebt in seinem neuen Film über den 11. September 2001 existenzialistischen Tiefgang an. Die Verarbeitung eines zeitgenössischen kollektiven Traumas bürdet er einem altklugen Kind mit ausgeprägter Kommunikationsschwäche auf.

Septemberblauer Himmel, schwelgerische Melodien und ein Mann, der sachte nach unten gleitet – so beginnt das 9/11-Opus des britischen Regisseurs Stephen Daldry mit dem Titel «Extremely Loud and Incredibly Close» («Extrem laut und unglaublich nah»).

Sitze ich im falschen Film? Ich lebte 2001 in den USA und kannte Leute, die im World Trade Center arbeiteten. Ich habe damals Bilder von Menschen gesehen, die sich in Panik aus den Türmen stürzten, und habe die Schreie der PassantInnen auf der Strasse gehört, die den Aufprall der Körper aus der Nähe mitansehen mussten. Das ist im Gedächtnis haften geblieben. Und auch die neue Runde von Krieg und Terror, die an diesem Tag begann. Keine Spur von Schwerelosigkeit. Ich will eigentlich keine fallenden Menschen mehr sehen, schon gar nicht im Zeitlupentempo. Doch als Filmkritikerin bleibe ich brav sitzen und bemerke, dass die Haare des schwebenden Mannes so perfekt glänzen und fliessen wie in einer Shampooreklame.

In Stöckelschuhen durch New York

«Extremely Loud and Incredibly Close» ist eine wahre Augenweide und wurde wohl deshalb für einen Oscar in der Kategorie «bester Film» nominiert (wie schon Daldrys Spielfilme «The Hours» und «The Reader»). Die Bilder sind ja auch wirklich schön: Die U-Bahn ist schön urban, die Industrieanlage schön industriell, der alte Hafen schön pittoresk. Sehr malerisch ist auch das Nachtlager der Obdachlosen unter der Brücke. Und die Menschen selbst sind alle schön schwarz oder schön weiss, schön alt, schön jung, schön traurig, schön religiös oder schön verschroben. Der Himmel ist schön blau, und die ausgedehnte Stadtwanderung des jungen Helden ist alles in allem so mühelos, dass seine schöne Mutter den ganzen Weg auf eleganten Stöckelschuhen und im engen Jupe vorangehen kann. Man bekommt richtig Lust auf ein verlängertes Wochenende in New York.

Doch Stephen Daldry und Jonathan Safran Foer, auf dessen Buch der Film basiert, zielen keine vergnügliche Städtereise an, sondern existenzialistischen Tiefgang. Sinnsuche. Katharsis. Reflexionen über Leben und Tod, Normalität und Abweichung, Liebe und Liebesverlust. Philosophisch-psychologische Einblicke in die Beziehung von Vätern und Söhnen, in die Entstehung von Traumata und die Überwindung von Traumata. Bei solchen Ambitionen ist es kein Wunder, dass selbst ein hervorragender Schauspieler wie Max von Sydow etwas überfordert wirkt, wenn er zugleich mysteriöser Fremder und liebender Grossvater sein muss, stumm, aber beredt und überdies behaftet mit einer dunklen Vergangenheit (Zweiter Weltkrieg!), die zäh wie Melasse an seiner Persona klebt. Am glaubwürdigsten ist denn auch die Szene, wo der Alte sich von der ganzen aussichtslosen Chose absetzen will. Seine Wut und Verzweiflung kratzen endlich an der Oberfläche – aber man ahnt schon, dass er in den Schoss der Familie und des Films zurück muss.

Die Unschuld als Hauptopfer

Wieso eigentlich? «Extremely Loud and Incredibly Close» erzählt unter Zuhilfenahme von namhaften SchauspielerInnen, mit attraktiven New Yorker Schauplätzen als Kulisse und dramatisch gewürzt mit einer Prise 11. September 2001 bloss einmal mehr das literarisch und filmisch äusserst beliebte Sujet des kleinen Jungen auf der Suche nach dem Schlüssel (hier dem Schloss) zur grossen weiten Welt. Statt Oskar Matzerath wie bei Günther Grass heisst der ewige Junge nun Oskar Schell und läuft mit einem Tamburin herum statt mit einer Blechtrommel. Oskar der Jüngere schreit zwar auch, aber nicht ganz so laut und so oft wie sein Namensvetter.

Und weil unser Held in den Vorkriegs-USA lebt statt im Nachkriegsdeutschland, entwickelt sich die Geschichte etwas jugendfreier und endet vergleichsweise happy. «Deine besondere Art, die Welt zu sehen, ist ein Geschenk», versichert der Filmvater (Tom Hanks) seinem hochfunktional autistischen Sohn (Thomas Horn) – und dem werten Kinopublikum, das gar nicht anders kann, als die Welt zwei Stunden lang durch die Augen ebendieses jungen Hauptdarstellers wahrzunehmen.

Das allein ist schlimm genug. Doch es gibt noch eine befremdlichere Möglichkeit: dass die Herren Daldry und Safran Foer «Extremely Loud and Incredibly Close» nicht als zeitlose Gralssuche mit Harry-Potter-Appeal verstehen, sondern als einen Beitrag zum 11. September 2001. In diesem Fall bürden sie die Verarbeitung eines zeitgenössischen kollektiven Traumas mit globaler Ausstrahlung ausgerechnet einem altklugen Kind mit ausgeprägter Kommunikationsschwäche auf. Dessen Perspektive suggeriert, dass es einmal eine heile Welt gab – die Familie Schell, New York, die USA –, die am «schlimmsten Tag», wie Oskar das nennt, sinnlos zerstört wurde, und dass die verletzte Unschuld das Hauptopfer der Attentate ist. Dieser Idee bin ich in den USA erstaunlich oft begegnet; das macht sie aber nicht besser oder wahrer oder weniger egozentrisch.

Am 11. September 2001 wurde am Ground Zero unter anderem ein mit Staub und Asche bedeckter Feuerwehrmann interviewt. Er sagte: «Die Welt ist schlecht» – und versuchte doch, Menschen zu retten. So ein bodenverhafteter Blick zurück hätte mich interessiert, zum Beispiel. Stattdessen hebt unser Oskar schliesslich ganz ab ins grosse Blau, von dem der Mann (sein Vater?) anfangs heruntergeschwebt ist. Und der Himmel hängt voller Geigen.

Extremely Loud and Incredibly Close. Ab 16. Februar in Deutschschweizer Kinos. Regie: Stephen Daldry. USA 2011