Hans-Wolff, der «Engel der Sans-Papiers»: «Genf ist einsame Spitze in der Schweiz»

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Der Arzt, Forscher und Aktivist Hans Wolff weigerte sich, den hungerstreikenden Hanfbauer Bernard Rappaz zwangsweise zu ernähren, versorgte mit einer mobilen Einheit Sans-Papiers medizinisch und ist sich sicher, dass mehr Gerechtigkeit die Lebenserwartung aller erhöht.

Im Zentrum für medizinische Forschung und Lehre, zuoberst im achten Stock, zuhinterst am Ende langer Korridore, befindet sich ein ganz spezielles Labor. Hier forscht Hans Wolff über den Zusammenhang zwischen Solidarität und Gesundheit.

Vor etwas mehr als einem Jahr ist der Chef der gefängnismedizinischen Abteilung des Genfer Universitätsspitals über Genf hinaus bekannt geworden. Er verweigerte den Befehl der Walliser Justiz, den hungerstreikenden Hanfproduzenten Bernard Rappaz zwangsweise zu ernähren. Damit löste der 48-jährige Hans Wolff eine schweizweite Debatte über Zwangsernährung und Folter aus. In Genf ist der Arzt vor allem bekannt, weil er sich für das Recht von Sans-Papiers, Obdachlosen und MigrantInnen auf medizinische Versorgung einsetzt. «Wer von Gesundheit spricht, muss sich bewusst sein, dass sie zu zwanzig bis dreissig Prozent durch Erbfaktoren bedingt ist und zu zehn bis fünfzehn Prozent vom Gesundheitssystem beeinflusst wird. Mehrheitlich, zu etwa 65 bis 75 Prozent, hängt sie aber von sozialen und wirtschaftlichen Faktoren ab», sagt Wolff.

«Also muss der Arzt zu ihnen»

Und auf diese sozioökonomischen Faktoren will der engagierte Mediziner Einfluss nehmen. Mitte der neunziger Jahre hat er in Genf ein mobiles medizinisches Hilfszentrum für MigrantInnen, Obdach- und Papierlose gegründet. «Menschen, die in grosser sozialer Prekarität leben, gehen nicht zum Arzt. Also muss der Arzt zu ihnen gehen.» Die Stadt stellte Lokale zur Verfügung, von dort aus spannten Wolff und seine MitarbeiterInnen der Genfer Universitätsklinik ihr medizinisches Netz bis zu den Auffangstellen für Menschen in prekären Verhältnissen. Angefangen habe die Unité mobile des soins communautaires mit rund hundert Konsultationen pro Jahr, im achten Jahr seien es bereits rund 15 000 gewesen. «Genf ist, was Umfang und zur Verfügung stehende Mittel betrifft, einsame Spitze in der Schweiz», sagt Wolff stolz. Um ein ähnliches Programm bemühe sich noch Lausanne, in der Deutschschweiz hingegen gebe es keine oder nur sehr kleine offizielle Strukturen: «Wen wunderts, in Zürich gibt es ja offiziell keine Papierlosen, also braucht es auch keine medizinische Hilfe für sie!»

Nach acht Jahren bei der Unité mobile übernahm Wolff die Direktion der gefängnismedizinischen Abteilung der Genfer Universitätsklinik. «Auch hier geht es mir um die gleichen Themen: um sozioökonomische Ursachen, um Migration und ihre Folgen, um das Menschenrecht auf Gesundheit und gleichberechtigte medizinische Versorgung.» Parallel dazu beteiligt er sich an einer Studie zum Gesundheitszustand der Genfer Bevölkerung. Das Resultat sei alarmierend: «Eine von sieben Personen in Genf verzichtet aus finanziellen Gründen auf medizinische Leistungen, Tendenz steigend!» Diese Situation habe Konsequenzen für das ganze Gesundheitssystem, nicht nur, weil zu spät behandelte Krankheiten teurer zu stehen kämen, sondern auch, weil ansteckende Krankheiten verbreitet würden.

Gerechtigkeit hilft sparen

«Das Grundproblem im Gesundheitswesen ist der grösser werdende soziale Bruch», ist Wolff überzeugt. Wenn man die Lage im historischen Rückblick betrachte, stelle man fest, dass die sozialen Ungleichheiten bis in die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts abgenommen hätten. «Seither öffnet sich die Schere wieder.» Dabei sei klar, dass Gesellschaften mit geringen sozialen Unterschieden positive Auswirkungen auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung hätten. «In Gesellschaften mit extremer Armut leben nicht nur die Armen, sondern auch die Reichen ungesund. Sie fühlen sich bedroht, begeben sich freiwillig ins Ghetto, leben in rigiden Strukturen: Das alles ist nicht gut für ihre Gesundheit.»

Und Wolff führt das Beispiel von New York an, wo die Menschen noch bis vor kurzem eine kürzere Lebenserwartung als im nationalen Durchschnitt gehabt hätten. Seit jedoch systematisch Sozial- und Gesundheitsaspekte in allen Fragen, von der Infrastruktur in Slums über Raumplanung und Wohnungsbau bis zur Erziehung, mitberücksichtigt würden, sei die Lebenserwartung auf zweieinhalb Jahre über den nationalen Durchschnitt gestiegen. Dieser «Health in all policies»-Ansatz werde von der Weltgesundheitsorganisation WHO unterstützt und könnte auch für die Schweiz ein Modell sein. Die Einführung von mehr Wettbewerb und die Zerschlagung der Solidarität im Gesundheitswesen hingegen führten zu mehr Ungleichheit und zu einem teureren Gesundheitssystem. «Wer im Gesundheitswesen sparen will, muss in soziale Gerechtigkeit investieren», ist seine These.

Hans Wolff, verheiratet und Vater von zwei Kindern, hat soeben seine Habilitationsschrift beendet, sie liegt gerade druckfrisch auf dem Tisch. Und auch hier geht es Wolff um die Frage: Wie sichert man in immer grösser werdenden städtischen Agglomerationen den Zugang zur medizinischen Versorgung für alle? Wolff, der seine Kindheit in Deutschland und der Türkei verbracht hat und danach nach Genf zog, sieht sich gleichzeitig als Arzt, Forscher und Aktivist. «Engagement ist gut, es mit wissenschaftlichen Fakten zu untermauern, ist besser!»

Monsieur Lazhar. Regie: Philippe Falardeau. Kanada 2011