Grundeinkommen und Gewerkschaften: «Vollbeschäftigung bleibt das Ziel»

Nr. 16 –

Rolf Zimmermann, Zentralsekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds, warnt, ein bedingungsloses Grundeinkommen gefährde die sozialpolitischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts.

WOZ: Dieser Tage beginnt in der Schweiz die Unterschriftensammlung für ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) von 2000 bis 2500 Franken pro Monat. Das ist deutlich weniger als der von den Gewerkschaften geforderte Mindestlohn von 4000 Franken.
Rolf Zimmermann: Die gewerkschaftliche Mindestlohninitiative fordert mindestens 4000 Franken pro erwerbstätige Person. Und genau da liegt der kleine Unterschied! Wir gehen von der Erwerbstätigkeit als Grundsicherung aus und fordern dafür einen anständigen Lohn. Die BGE-Leute wollen ein Grundeinkommen für alle. Das wird sauteuer. Das Grundeinkommen wird in starke Konkurrenz zu den übrigen Sozial-
versicherungen treten – was auch immer jetzt von den Initianten gesagt wird.

Das BGE ist eine Utopie, aber die Vollbeschäftigung ist ja auch keine Realität mehr.
Ich gehe trotzdem davon aus, dass die Erwerbsarbeit ein optimales, um nicht zu sagen: maximales Instrument darstellt, um zu einem würdigen und erfüllten Leben zu kommen. Ich sehe keine echte Alternative. Die Erwerbsarbeit ist als Integrationsmöglichkeit für eine Gesellschaft äusserst wichtig. Und die Vollbeschäftigung ist für uns Gewerkschaften nicht einfach eine unrealisierbare Utopie, sondern ein politisches Ziel. Es ist ein Skandal, dass heute die meisten Ökonomen bei Arbeitslosenquoten von drei oder dreieinhalb Prozent von Vollbeschäftigung reden.

Die Gewerkschaften bestehen also auf der Erwerbsarbeit als Mass aller Dinge?
Ja, aber unser Modell ist umfassender. Über die Erwerbsarbeit erwirbt man auch einen Anspruch auf Existenzsicherung. Es sind Auffangnetze da: von der Arbeitslosenversicherung bis zur AHV oder Unfallversicherung. Wenn nun mit dem BGE eine teure Alternative mit wenig Leistung in die Welt gesetzt wird, kommt alles andere ins Rutschen. Mit dem Grundeinkommen bekommt zwar jeder eine Morgengabe, doch die Hälfte der Bevölkerung braucht diese gar nicht. Und für die anderen ist es zu wenig zum Leben.

Die Gewerkschaften wollen nicht, dass die Unternehmen vom Anspruch auf existenzsichernde Löhne befreit werden?
Das BGE ist eine prächtige Legitimationspiste für alle Tieflohnbranchen. Die sagen sich: «Aha, jetzt ziehen wir erst mal die 2500 Franken ab. Und dann erst fängt unsere Lohnskala an.» Das wollen wir nicht. Wir wollen einen Mindestlohn von 4000 Franken. Und nicht 1500 Franken Ergänzungslohn.

Die schärfsten Gegner des BGE sagen: Das bedingungslose Grundeinkommen macht die Menschen faul. Die Befürworter entgegnen: Im Gegenteil, das BGE macht die Menschen frei.
Ich glaube nicht, dass es der Natur der Menschen entspricht, einfach faul und bequem zu sein. Das ist ein Vorurteil, das vor allem bürgerliche Kreise gerne verbreiten. In der Regel würden sich die Menschen weiterhin bemühen, Zusatzeinkommen zu haben. Aber im Endeffekt dann zu einer nicht gerechten Entlöhnung. Obwohl wir natürlich auch heute meilenweit von gerechten Löhnen entfernt sind. Heute gibt es auf der einen Seite eine skandalöse Abzockerei und auf der andern Seite skandalöse Tiefstlöhne. Diese Ungerechtigkeit muss unter anderem mit einer stärkeren Steuerprogression beantwortet werden.

Das BGE kann das Lohngefälle nicht ausgleichen?
Nein. Die Arbeitgeber werden netto rechnen. Für gute Löhne braucht es also engagierte Gewerkschaftsarbeit wie bisher, und diese würde durch das BGE eher erschwert. Denn das BGE kostet ja unheimlich viel.

… und es soll unter anderem via Mehrwertsteuer finanziert werden.
Das ist grauenhaft. Wenn man das Grundeinkommen mit Mehrwertsteuern bezahlen muss, heisst das, dass in erster Linie die Erwerbstätigen die miesen Grundeinkommen bezahlen müssen, und zwar mit unheimlich hohen Mehrwertsteuersätzen. Die Rechnung geht so einfach nicht auf.

Die BGE-Leute hoffen, dass das Grundeinkommen im Gegensatz zum heutigen Sozialhilfe-
bezug niemanden gesellschaftlich ausgrenzt.
Daran glaube ich nicht. Ich gehe davon aus, dass die Männer und Frauen, die ein BGE ohne Zusatzverdienst beziehen, ebenso ausgegrenzt würden, wie es sozial Bedürftigen heute passiert. Das bedingungslose Grundeinkommen ist in den sozialen Berufen deshalb so beliebt, weil die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter die Nase voll haben von der ewigen Sozialhilfediskussion. Doch diese Diskussion wird nicht aufhören, sondern sie wird sich einfach auf eine andere Stufe verlagern.

Die Sozialhilfediskussion ist auch deshalb so intensiv, weil wir in der Realität immer weiter vom Modell der Vollbeschäftigung abrücken.
Im Moment ist dieses Modell nicht verwirklicht. Es gibt Leute, die sagen, das war bloss so eine kurze Ausnahmephase in der «goldenen Zeit» zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Ölkrise. Ich teile diese Resignation nicht.

Theo Wehner, Arbeitspsychologe an der ETH Zürich, meint, die Vollbeschäftigung als Modell sei weitaus utopischer als das bedingungslose Grundeinkommen.
Da sind wir von den Gewerkschaften anderer Meinung. Das Modell der Vollbeschäftigung hat sich historisch bewährt. Ich glaube nicht, dass die zwanzig bis dreissig Nachkriegsjahre, in denen in der Schweiz sowie in andern europäischen Ländern Vollbeschäftigung da war, bloss eine historische Ausnahmeerscheinung sind. Statt zu resignieren, kann uns hier ökonomische und historische Forschung weiterhelfen.

Mehr bezahlte Arbeit wäre ja zum Beispiel im Care-Bereich, etwa in der Krankenpflege und bei der Kinderbetreuung, möglich.
Je stärker der Care-Bereich bezahlte Arbeit wird, desto mehr können wir auch wieder zur Vollbeschäftigung kommen. Die Frage ist dann natürlich sofort: zu welchen Arbeitsbedingungen und zu welchen Löhnen? Wer bezahlt den Mehraufwand?

Ganz oben hat es ja noch einige Mittel, die umverteilt werden könnten.
Ja, und immer mehr! Der SGB publizierte vor einem Jahr einen Verteilungsbericht unter Federführung von Chefökonom Daniel Lampart. Dieser zeigt die skandalöse gesellschaftliche Entwicklung seit der Dominanz des Neoliberalismus auf. In den letzten zwanzig Jahren wurde das Reichtumsgefälle immer extremer, die Schweiz gehört zur Weltspitze dieser Polarisierung.

Finden Sie, das BGE sei alles in allem eine un-politische Sache?
Nein, das BGE ist hochpolitisch, denn es führt zu einem gesellschaftlichen Rückschritt. Ein so massiver Eingriff in das Sozialversicherungssystem – und das ist das BGE trotz aller gegenteiligen Versicherungen – ist hochpolitisch. Das BGE ist fast so etwas wie eine Allmachtsfantasie: Man hat ein grosses Modell, das alle Probleme auf einen Schlag lösen will. Dieses «Paradies» ist nicht mein Gesellschaftsmodell. Oft müssen sich doch die verschiedenen Interessen aneinander reiben, und aus den Konflikten entsteht etwas Gutes.

Rolf Zimmermann (61) betreut als Zentralsekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds unter anderem die Dossiers Service public, Infrastruktur-politik und Bundespersonal. In diesen Tagen 
geht er in Pension.