Carlos Fuentes (1928–2012): Ein unbestechlicher Realist, der die Hoffnung nie aufgab

Nr. 21 –

Er polemisierte bis zuletzt – und war doch meist sehr freundlich und nie verbittert: Der mexikanische Romancier und Essayist Carlos Fuentes ist am 15. Mai im Alter von 83 Jahren gestorben.

«Ständige Arbeit hält mich jung», sagte Carlos Fuentes in seinem letzten Interview. «Ich habe gerade ein Buch abgeschlossen und schon das nächste im Kopf. Am Montag fange ich mit dem Schreiben an.» Das Gespräch erschien am 14. Mai in der spanischen Tageszeitung «El País». Am Tag darauf ist Fuentes nach einer plötzlich aufgetretenen inneren Blutung im Alter von 83 Jahren in Mexiko-Stadt gestorben.

Das noch vollendete Manuskript trägt den Titel «Federico en su balcón» («Friedrich auf seinem Balkon»), ein imaginärer Dialog mit Friedrich Nietzsche. Das Buch, das er im Kopf hatte, sollte «El Baile del Centenario» heissen («Der Tanz des Jahrhunderts») – eine Geschichte, mit der er das Jahrhundert zwischen der Unabhängigkeit Mexikos 1810 und der 1910 beginnenden Revolution erzählen wollte. Die Verkommenheit der Macht und die grosse und gleichzeitig verkorkste Geschichte seines Landes: Das sind die Themen, die Fuentes über ein halbes Jahrhundert lang in Romanen, Essays und Kommentaren beschäftigt haben.

Mindestens in den beiden vergangenen Jahrzehnten war Fuentes stetiger Anwärter auf den Literaturnobelpreis. Doch anders als Gabriel García Márquez und Mario Vargas Llosa, die beiden anderen Protagonisten des «El Boom» genannten Aufschwungs der lateinamerikanischen Literatur in den 1950er- und 1960er-Jahren, hat er ihn nie bekommen. Das liegt vor allem daran, dass sein Werk international nicht so leicht zu vermarkten ist. Es handelt immer von Mexiko – und ist doch viel mehr als nationale Literatur. Seine zweite grosse Passion, die Sezierung der Macht, macht seine Bücher zu Werken mit symbolhafter Ausstrahlung weit über Mexiko und Lateinamerika hinaus.

Für ein freies Hispanoamerika

Geboren wurde Fuentes am 11. November 1928 in Panama-Stadt als Sohn eines Diplomaten. Kindheit und Jugend verbrachte er in den Hauptstädten des amerikanischen Kontinents, von Washington bis Buenos Aires und Santiago de Chile. Erst mit sechzehn kam er nach Mexiko-Stadt. Dort waren es seine beiden Grossmütter, die ihn mit ihren Geschichten von Banditen und Revolutionen, von Liebe und Verrat für das Wesen seines Landes begeisterten. Diese beiden Frauen, sagte er 2006 in einem Interview, «sind die eigentlichen Autorinnen meiner Bücher». Fuentes lebte später in Paris, in London, in Venedig und lehrte immer wieder in den USA – ein Weltbürger mit tiefen Wurzeln zu Hause.

Den Durchbruch schaffte er als Dreissigjähriger mit dem Roman «Landschaft in klarem Licht» (1958), dem ersten literarischen Bild des modernen Molochs von Mexiko-Stadt. Schon da unterschied ihn seine brutale Nähe zur Realität vom süsslich-ländlichen magischen Realismus eines García Márquez. Seine nachfolgenden grossen Erfolge wie «Der Tod des Artemio Cruz» (1962) oder «Der alte Gringo» (1985) behandeln Glanz, Leid und Niedergang der mexikanischen Revolution. Sein genialer Briefwechselroman «La Silla del Águila» (2003) nimmt beispielhaft und ironisch die korrupte wirtschaftliche und politische Elite Mexikos auseinander. «La Voluntad y la Fortuna» (2008) ist eine literarische Aufarbeitung des Drogenkriegs aus der Sicht eines geköpften Opfers.

Fuentes glaubte zwar, dass er als Romancier am meisten zu sagen habe, mischte sich aber auch als Kommentator immer wieder direkt ins politische Geschehen ein. Sein grösster Wurf auf diesem Feld ist das Essay «Der vergrabene Spiegel» (1992), eine kulturhistorische Erkundung Lateinamerikas von der spanischen Eroberung bis in die Gegenwart. Lange vor der bolivarischen Vision eines Hugo Chávez entwirft er darin am Ende voll Optimismus die Möglichkeit eines eigenständigen und wirklich unabhängigen Hispanoamerikas. Für den linkspopulistischen Präsidenten Venezuelas hatte er später nur grimmige Worte übrig: Er nannte ihn einen «tropischen Mussolini».

Ein undogmatischer Linker

Dabei verstand sich Fuentes immer als politisch links. Parteien jedoch interessierten ihn nie. In Mexiko gehörte er zu den schärfsten Kritikern der sieben Jahrzehnte lang herrschenden Staatspartei PRI und ihrer korrupten und repressiven Klientelwirtschaft. Er unterstützte zunächst Fidel Castro, kritisierte ihn aber später scharf wegen seiner autoritären Allüren. Er lobte die SandinistInnen in Nicaragua und verachtete später deren selbstherrlichen Chef Daniel Ortega. Er mischte sich in die Debatte um die Legalisierung der Drogen ein – für ihn der vielleicht einzige Weg, das Gemetzel zu beenden, das heute Mexiko paralysiert.

So beissend polemisch Carlos Fuentes sein konnte, er wirkte selbst bei sarkastischen Spitzen freundlich und gut gelaunt, immer elegant und nie verbittert. Die Arbeit hat ihn bis zu seinem Tod jung gehalten, nichts konnte seinen Optimismus brechen. Am Tag, als er starb, erschien in der linksliberalen mexikanischen «La Jornada» sein letztes politisches Essay: über die Hoffnung, die er aus dem Regierungswechsel in Frankreich schöpfte.