«Hüeterbueb und Heitisträhl»: Der reiche Wald der armen Leute

Nr. 21 –

Alles, was der Wald hergab, wurde genutzt: die Rinde zum Gerben oder zum Anfeuern, das Moos als Isolationsmaterial, das Harz als Kaugummi und heilende Salbe, das Laub als Matratzeninhalt, Tierfutter oder Einstreu im Stall, die Asche als Waschlauge, Flechten und Kräuter als Medizin, Beeren, Nüsse, Eicheln und Bucheckern als Nahrung … im Mittelalter? Nein, noch vor wenigen Jahrzehnten. Nur die Pilze blieben oft stehen: «Die Älteren haben keine Schwümm gegessen», erinnert sich ein Mann aus dem Saanenland. «Sie hatten Angst davor.»

Der Umweltnaturwissenschaftler Matthias Bürgi und der Historiker Martin Stuber beschäftigen sich schon seit langem mit Waldgeschichte. Für ihr Buch «Hüeterbueb und Heitisträhl» haben sie ältere Menschen aus dem Saanenland, dem Vispertal, dem Fankhausgraben am Napf, dem Schächental und dem Prättigau befragt. Diese berichten über die grosse Rolle, die der Wald in ihrem Alltag spielte – und erzählen von einer fremden Welt: Im Vispertal versorgte sich die Bevölkerung noch vor gut fünfzig Jahren selbst mit allem, was sie brauchte. Geld war kaum im Umlauf: «Bei uns wurde nur der Butter verkauft», betont ein Zeitzeuge. Aber auch in Gegenden, wo Handel und Tourismus präsenter waren, lieferte der Wald einen wichtigen Teil des täglichen Bedarfs. Das praktische Wissen war enorm: wie eine Fichte aussah, aus der sich gut Schindeln machen liessen, welches Holz sich am besten für Zäune, Räder, Schuhe oder Werkzeugstiele eignete.

Der Wald diente nicht nur der Sammelwirtschaft, sondern auch als Weide: Hüeterbueben sammelten jeden Morgen die Ziegen des Dorfes und stiegen mit ihnen hinauf bis über die Waldgrenze. Auf dem Weg frassen die Herden nicht wenige Bäume kahl, was den Förstern überhaupt nicht gefiel.

Die Förster, die um die Verjüngung der Wälder fürchteten, prägten den Blick auf die Waldwirtschaft: «Plünderwald» nannte ein verbreitetes Lehrbuch für Forstgeschichte die bäuerlich genutzten Wälder. Stuber und Bürgi zeichnen ein differenzierteres Bild: Wo jeder Zweig mitgenommen wurde, war zwar die Biomasse knapp, doch die Artenvielfalt oft hoch – heute, wo die Wälder dichter sind, braucht es dafür aufwändige Pflegemassnahmen.

Eine DVD bietet weiteres Anschauungsmaterial, und die sorgfältig ausgewählten historischen Fotos sind grossartig. Das Buch ist auf so grosses Interesse gestossen, dass die erste Auflage in wenigen Monaten ausverkauft war. «Hüeterbueb und Heitisträhl» ruft in Erinnerung, dass die heutige Verschwendungsgesellschaft nur eine kurze Episode in der Geschichte ist. Wird das Erdöl knapp, ist sie vorbei.

Hüeterbueb und Heitisträhl. Traditionelle Formen der Waldnutzung in der Schweiz 
1800 bis 2000. Haupt Verlag. 
Bern, 2. Auflage 2012. 302 Seiten. Fr. 47.90