Der Rio+20-Gipfel: Wenn Shell die Erde retten will

Nr. 24 –

In Rio soll sich die Welt auf einen nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen verpflichten. Die Perspektiven von Norden und Süden könnten unterschiedlicher nicht sein.

«Die Menschheit steht an einem entscheidenden Punkt ihrer Geschichte. Wir erleben ein zunehmendes Ungleichgewicht zwischen den Völkern und in den Völkern, eine immer grössere Armut, immer mehr Hunger, Krankheit und Analphabetentum sowie eine fortschreitende Schädigung der Ökosysteme, von denen unser Wohlergehen abhängt.» So beginnt die Präambel der sogenannten Agenda 21, eines umfangreichen Arbeitsprogramms für das 21. Jahrhundert. Verabschiedet wurde es 1992 auf dem grossen Uno-Umweltgipfel in Rio de Janeiro, der Uno-Konferenz für Umwelt und Entwicklung, zu der sich die Staats- und Regierungschefs aus über 170 Ländern versammelt hatten.

Nächste Woche, vom 20. bis zum 23. Juni, findet am gleichen Ort eine Nachfolgekonferenz statt. Sie soll nicht nur Bilanz ziehen, sondern neue nachhaltige Entwicklungsziele setzen. Offen ist, wie diese im Einzelnen aussehen werden. Der Internationale Gewerkschaftsbund will mehr als einfach neue Verhandlungsprozesse anstossen. In den Konsultationen im Vorfeld hat er konkrete Vorschläge formuliert: Alle ArbeiterInnen und ihre Familien sollen sozial abgesichert werden, die Arbeitslosigkeit um mindestens dreissig Prozent reduziert und Investitionen so umverteilt werden, dass anständige Arbeitsplätze in umweltfreundlichen Branchen geschaffen werden können.

Nichtregierungsorganisationen wie etwa die Schweizer Alliance Sud fordern, dass in den nachhaltigen Entwicklungszielen die Menschenrechte und klare Vereinbarungen zur Verantwortung von Unternehmen verankert werden. Nur so können international agierende Konzerne für Umweltsünden und Menschenrechtsverstösse belangt werden.

Auf dem Programm in Rio steht schliesslich die Frage, ob das inzwischen schon fünfzig Jahre alte, aber derzeit nur von 58 Nationen getragene Umweltprogramm der Vereinten Nationen (Unep) in eine ständige Uno-Agentur mit mehr Befugnissen und vor allem einem besser gesicherten Budget umgewandelt wird. Der Vorschlag wird von Frankreich forciert, von über hundert Ländern unterstützt, aber von den USA bekämpft.

Das Recht auf Entwicklung

In den vorbereitenden Verhandlungen hat es einmal mehr mächtig geknallt. Die westlichen Industriestaaten konnten ihren Standpunkt gegenüber den Entwicklungsländern nicht durchsetzen. Vor zwanzig Jahren war das einfacher gewesen. Der Ostblock war gerade zerfallen, viele Entwicklungsländer steckten in einer schweren Krise. Seit den siebziger Jahren zerfielen die Rohstoffpreise, was für viele von ihnen die sogenannten Terms of Trade (Verhältnis zwischen Import- und Exportgüterpreisen) massiv verschlechterte. Die hohe Verschuldung trug das Ihre dazu bei, den Kapitalfluss von den Entwicklungsländern in den reichen Norden anschwellen zu lassen. Anpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds, die Privatisierungen sowie Kürzungen der Sozial- und Bildungsausgaben erzwangen, gaben vielen Ländern des Südens den Rest.

Immerhin hatten sie in Rio 1992 noch einige wichtige Pflöcke einschlagen können. In den Industriestaaten hatte ein wachsendes Umweltbewusstsein die Idee internationaler Abkommen als Antwort auf die globalen Umweltprobleme auf die Tagesordnung gesetzt. Mit dem Montreal-Protokoll zum Schutz der Ozonschicht lag bereits ein erstes erfolgreiches Abkommen auf dem Tisch. Die westliche Öffentlichkeit nahm den Rio-Gipfel entsprechend vor allem als Umweltgipfel wahr.

Die Länder des Südens hatten allerdings darauf gedrängt, Entwicklung und Umwelt als ein zusammenhängendes Thema zu behandeln. Damit suchten sie zu verhindern, dass Umweltschutzauflagen ihre eigene Industrialisierung verunmöglichten, erschien eine solche doch damals – wie trotz aller Widersprüchlichkeiten auch heute noch – als einziger Ausweg aus der Armut.

Entsprechend sollen mit der Agenda 21 wie auch mit der ebenfalls 1992 in Rio verabschiedeten Klimaschutzrahmenkonvention und der Konvention über die biologische Vielfalt nicht nur die Umweltprobleme angegangen werden. Der industrialisierte Norden steht dabei auch in der Pflicht, die ärmeren Länder bei der Bewältigung ihrer Umweltprobleme zu unterstützen. Der Finanz- und Technologietransfer, den man damals vereinbart hat, ist allerdings bis heute nicht richtig in Gang gekommen.

Die Entwicklungsländer pochten insbesondere auf das Prinzip des Lastenausgleichs, wie es zum Beispiel in der Klimaschutzkonvention als «gemeinsame, aber unterschiedliche Verantwortung» festgehalten wurde. Die Spannungen im Vorfeld des zweiten Erdgipfels sind unter anderem durch den Versuch der Industriestaaten – darunter auch die Schweiz und die EU – ausgelöst worden, jede Erwähnung dieses Grundsatzes in den Abschlussdokumenten zu verhindern. Darauf dürften die Entwicklungsländer kaum verzichten.

Beim Klimaschutz folgt aus dem Prinzip der unterschiedlichen Verantwortung, dass zunächst die Industriestaaten ihre Emissionen reduzieren müssen. AkteurInnen aus den Ländern des Südens und Umweltschutzorganisationen drängten 1992 darauf, dies zügig in Angriff zu nehmen, damit die Entwicklungsländer ihre wirtschaftliche Entwicklung weiter vorantreiben können, ohne dass das globale Klima darunter leidet. Die Reduktionen in den Ländern des Nordens sollten, so die Hoffnung, zunächst zumindest die Steigerung der Emissionen im Süden wettmachen.

Daraus wurde bekanntlich nichts. Wichtige Staaten zeigten schon bald, dass sie die Vereinbarungen nicht allzu ernst nahmen. Gemäss der Klimakonvention hätten die Industriestaaten in einem ersten Schritt ihre Emissionen auf das Niveau von 1990 zurückfahren sollen. Doch die USA zauberten 1996 an der Klimakonferenz in Genf, als es um die Überprüfung der Verpflichtungen gehen sollte, eine spitzfindige juristische Interpretation aus dem Hut: Sie behaupteten, die Vereinbarung sei keine völkerrechtlich bindende Abmachung. Die anderen westlichen Industriestaaten schlossen sich dieser kreativen Auslegung der Verträge gerne an.

«Grüne Wirtschaft» ist umstritten

Das Nachsehen hatten die Entwicklungsländer, die Armen und die Umwelt. Sowohl in der sozialen als auch in der ökologischen Dimension ist bisher keine Trendumkehr geschafft. Rund die Hälfte der Menschheit lebt weiter in bitterer Armut, die Zahl der Hungernden hat in den letzten Jahren die Milliardengrenze erreicht, und in den allermeisten Ländern nimmt die Ungleichheit der Einkommensverteilung weiter zu. Rund zwei Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und elektrischer Energie. Zugleich spitzt sich auch die Umweltkrise weiter zu. Die Treibhausgasemissionen erklimmen immer neue Rekordhöhen, viele Wüsten dehnen sich aus, die Regenwälder schrumpfen.

Der Verlust an Arten hat ein Ausmass erreicht, wie man es erdgeschichtlich eigentlich nur als Folge von ökologischen Katastrophen wie etwa Meteoriteneinschlägen kennt. Anders als vor zwanzig Jahren ist heute ausserdem klar, dass das wichtigste Treibhausgas, das Kohlendioxid, nicht nur das Klima erwärmt, sondern auch die Ozeane versauern lässt. Gehen die Emissionen in den nächsten Jahrzehnten nicht drastisch zurück, dann werden in den Weltmeeren die meisten Nahrungsketten zusammenbrechen. Mit katastrophalen Folgen nicht nur für die marine Artenvielfalt, sondern auch für die Welternährung.

Die Bilanz zwanzig Jahre nach dem Erdgipfel in Rio ist also mager. Immerhin ist mit den Rio-Prozessen ein Verhandlungsrahmen geschaffen, der bei entsprechendem politischem Druck aus den Bevölkerungen genutzt werden könnte. Den versucht ein Gegengipfel in Rio aufzubauen. Der grösste Teil der sozialen Bewegungen Brasiliens hat sich aus dem offiziellen Vorbereitungsprozess der Regierung enttäuscht zurückgezogen. Vom 15. bis zum 23. Juni laden sie daher zu einem alternativen Gipfel der Völker für soziale und Umweltgerechtigkeit und für die Verteidigung des Gemeineigentums.

Die Enttäuschung über die offiziellen Konsultationen erklärt sich auch aus dem Verhalten der Wirtschaftsverbände, die den Vorbereitungsprozess als weiteren Lobbykanal nutzen, um der geplanten Erklärung zum Thema «grüne Wirtschaft» ihren Stempel aufzudrücken. Verschiedene Gremien der Vereinten Nationen haben Vorschläge für einen regulativen Rahmen für nachhaltige Produkte ausgearbeitet. Dazu würden unter anderem Zertifizierungssysteme gehören – für Tourismus oder Forstprodukte zum Beispiel, aber auch für umstrittene Produkte wie Agrosprit aus Brasilien. Und der deutsche Elektronikkonzern und AKW-Bauer Siemens finanziert eine Kampagne, die auf die Anerkennung der «essenziellen Rolle der Privatwirtschaft in der nachhaltigen Entwicklung» pocht und gleichzeitig «Freihandel für nachhaltige Güter und Dienstleistungen» fordert. Die Kampagne wird von vielen Ölkonzernen wie Shell oder ExxonMobil unterstützt.

Die internationale Umweltschutzorganisation Friends of the Earth hat eine Unterschriftenaktion gestartet: Sie warnt vor dem wachsenden Einfluss multinationaler Konzerne auf die Verhandlungen und fordert die Vereinten Nationen auf, konkrete Schritte zu unternehmen, um den Einfluss der IndustrielobbyistInnen einzudämmen. «Wir wollen, dass die Partnerschaftsprojekte zwischen der Uno und verschiedenen Konzernen, die in Menschenrechtsverletzungen verstrickt sind, gestoppt werden», so der Kampagnenkoordinator Paul de Clerck. «Und wir wollen, dass globale Regeln eingeführt werden, mit denen die Konzerne für die Folgen ihres Handelns zur Rechenschaft gezogen werden können.» 335 Organisationen, die mehrere Millionen Mitglieder repräsentieren, haben bereits unterschrieben.