Die Schweiz tanzt: Freiräume und so weiter

Nr. 24 –

Was wollen sie denn, die jungen PartygängerInnen und Tanzenden in der ganzen Schweiz? Ist die Bewegung Konsumismus oder Politik? Die WOZ hat O-Töne eingeholt.

So war es am 2. Juni in Bern: Tanz dich frei. Foto: Cédric Dürig

Am 11. Mai tanzten in Bern 3000 Leute an einer Nachtdemo von der Reitschule zum Bundesplatz, am «Tanz dich frei» vom 2. Juni waren es schon weit mehr als 10 000.

Tanzende, Augenzeugen, die Politik und die Stadtverwaltung rieben sich ob dieser Menge alle gleichermassen die Augen. Am selben Tag feierten auf dem NT-Areal in Basel, einer alten Industriebrache, die von der Stadt in den letzten Jahren zu grossen Teilen saniert und aufgewertet wurde, tausend Leute eine gute Party. Auch in Biel, Lausanne und Chur fanden in kleinerem Rahmen jüngst ähnliche Anlässe statt. Schon letztes Jahr erlebte Zürich einen lebhaften Spätsommer, als auf dem Helvetiaplatz und am Bellevue spontane Strassenpartys stattfanden, die in Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und der Polizei endeten. Nun wird wieder gerätselt: Was will die Jugend? Haben wir es hier mit Politik zu tun oder nur mit den Exzessen einer konsumistischen, zum reinen Spass geronnenen Jugendkultur, die keine Ruhe- und Polizeistunden mehr kennen will? «Denn wir wissen nicht, wieso sie es tun», titelte die «Aargauer Zeitung» neulich in einem Kommentar zum Thema. Die WOZ hat bei Beteiligten in Basel, Bern und Zürich nachgefragt, wieso sie es tun.

Bern

In der Gartenwirtschaft eines indischen Restaurants im Berner Lorrainequartier sitzen Rahel Ruch, Berner Stadtparlamentarierin der Jungen Alternativen, Tom Locher, Mitglied der Alternativen Liste in Bern und langjähriger Reitschüler, und Terry Loosli, ehemaliger Mitbetreiber des Lärmklagen zum Opfer gefallenen Musiklokals Sous Soul zusammen und blicken auf ihre zurzeit ziemlich bewegte Stadt. Sie sind sich allesamt einig: Auch wenn es ab und zu auch mal nur ums Biersaufen geht, was in Bern gerade läuft und diskutiert wird, ist auf sehr mannigfaltige Art und Weise brisante Politik.

Terry Loosli: «Dank des überwältigenden «Tanz dich frei» vom 2. Juni wird den Leuten jetzt in allen Städten bewusst: Wir können mit der Masse wieder etwas erreichen. Es ist ein Prozess angerissen, der zu einer echten Bewegung führen kann. Wenn die Politik und die Behörden dieses starke Zeichen nicht ernst nehmen, dann nehmen die Jungen das Zepter halt selbst in die Hand. Wir müssen jetzt in Gesprächen herausfinden: Welche Wünsche sind eigentlich da? Für mich scheint es durchs Band einen Wunsch nach weniger Regulierung zu geben: in Clubs, in Beizen, auf der Strasse. Es soll überall wieder lockerer werden.»

Rahel Ruch: «Für die Junge Alternative stehen jetzt Fragen des öffentlichen Raums und der Jugendpolitik im Vordergrund. Wir werden im Stadtrat eine Reihe von Vorstössen einreichen und dabei sicher auch die aufsuchende Jugend- und Gassenarbeit wieder thematisieren, die wir in Bern schon seit Ewigkeiten fordern. Die Stadt Zürich macht das in ihrer Gassenarbeit mit der Jugendberatung Streetwork. In der Berner Innenstadt gibts nur die Pinto [Prävention, Intervention, Toleranz]. Die setzt in erster Linie ihren ordnungsdienstlichen Auftrag um und schickt die Leute weg, wo sie kann. Das führt zwangsläufig immer wieder zu Konflikten und Eskalationen im Nachtleben.»

Tom Locher: «Und die Weggeschickten landen dann wieder auf dem Vorplatz der Reitschule, weil sie sonst nirgendwo hinkönnen. Unserem Stadtpräsidenten Alexander Tschäppät wäre es ja am liebsten, wenn er aus der Reitschule eine Sonderzone machen und noch mehr ungelöste Probleme der Stadt der Reitschule zuschieben könnte, so wie dies schon in den neunziger Jahren und im letzten Jahrzehnt in der Drogenpolitik der Fall war, als wir zweimal über Monate hinweg eine offene Szene auf dem Vorplatz hatten. Die Stadtquartiere und die Gemeinden rund um Bern machen es sich aber auch zu einfach, weil sie keine oder kaum noch taugliche Jugendangebote haben. Wenn die Kids dann vor der Kirche oder am Bahnhof abhängen, werden sie zum Sicherheitsrisiko oder Litteringfaktor reduziert.»

Rahel Ruch: «Eine gewisse Toleranz gegenüber Störungen aller Art ist für mich essenziell, wenn man in der Stadt wohnen will, ansonsten muss man halt aufs Land ziehen. Dort stören dann die Kirchenglocken und die Kühe. Vielleicht müssen sich unsere Vorstellungen, was Stadtleben bedeutet, ändern. Wir müssen lernen, Konflikte direkt auszutragen, Differenzen auch auszuhalten.»

Basel

Aus Basel meldet sich aus einer Telefonkabine und per E-Mail ein Beteiligter der Party auf dem NT-Areal, der Emil genannt werden will.

Emil: «Es ist schwierig, von einem ‹uns› zu sprechen. Die Leute an der NT-Areal-Party hatten wahrscheinlich viele verschiedene Gründe für ihre Anwesenheit. Mein Umfeld und ich waren da, um uns Raum anzueignen, zu erkämpfen, ihn mit eigenen Inhalten und Werten zu füllen: Selbstverantwortung und Verantwortungsbewusstsein für andere, Eigeninitiative, Autonomie, Freiheit. Unabhängig von Regierungen und Verwaltung – fernab vom kapitalistischen Alltag. Wir wollten diesen Raum auch gegen jene verteidigen, die beständig damit beschäftigt sind, unsere Leben ohne unser Mitwirken zu verwalten und zu kontrollieren. Ziel war also, zumindest für einen kurzen Moment selbst bestimmen zu können, was wir wie tun wollen – dies in einer eindeutigen und unmissverständlichen Art, die den Zorn jener erweckt, die normalerweise über uns bestimmen.

Wir können im Herzen des Kapitalismus vor allem auch dank der Unterhaltungsindustrie alles nur Erdenkliche konsumieren. Trotzdem sind viele gelangweilt, gestresst, unzufrieden oder schlicht nicht glücklich. Weil die Menschen überwältigt sind von der Übermacht an strukturellen Einschränkungen und Zwängen, ist es meiner Ansicht nach kein Wunder, dass sie sich nach Abenteuer, Spannung, Intensität und Andersartigkeit sehnen. Die Unterhaltungsindustrie gehörte schon immer zu einem gesellschaftlichen Besänftigungsapparat. Vielleicht wird so ein bisschen verständlich, warum sich momentan so viel um illegale Partys dreht. In Basel gibt es noch ein einziges besetztes Haus: die Villa Rosenau vor der französischen Grenze. Alle anderen Besetzungen der letzten paar Jahre wurden nach kurzer Zeit ohne Diskussion geräumt.

Ein Freiraum ist der Versuch, über diese Gesellschaft hinauszuwachsen, ihr etwas entgegenzusetzen, sie zu konfrontieren. In ihm experimentieren wir mit Formen gelebter Utopie, um bereits im Jetzt schon eine andere Welt aufblitzen zu sehen. Ich glaube allerdings nicht, dass Freiräume allein gesamtgesellschaftliche Veränderungen in Gang setzen können. Sie sind aber eine Voraussetzung dafür. Sobald sich Tausende von Menschen mobilisieren lassen, um sich Strassen, Plätze, Häuser etc. zu nehmen, ohne dabei um Erlaubnis zu bitten, birgt das Potenzial für mehr. Wer allerdings immer nur in den vorgegebenen Schemen denkt und handelt, wird niemals grössere gesellschaftliche Veränderungen erreichen. Deshalb ist es wichtig, bestehende Gesetze zu ignorieren und wenn nötig auch auf die darauf folgende Konfrontation mit der Obrigkeit vorbereitet zu sein. Die Party in Basel war in dieser Hinsicht begrüssenswert.»

Zürich

Ein Zürcher, der sich «Möchtegernaktivist» nennt und zu einer bestimmten Zürcher Familie gehört, schwärmt in der Ecke einer klandestinen EM-Bar unter dem Schirm einer alten Stubenlampe vom «Tanz dich frei» in Bern und macht sich gemäss eigener Aussage ein paar grundsätzliche Gedanken über seine Mitjugend.

«Abende wie jener neulich in Bern lösen etwas aus, egal ob du politisch aktiv bist oder nicht. Du fragst dich: Wieso kostet es plötzlich nur noch drei Franken? Wieso hat jeder Laden zu, wo krieg ich jetzt Bier her? Mich hat dieser Abend in Bern einfach geflasht. Ich wollte gar nicht trinken. Hab nur ein paar Joints geraucht, um mich ab und zu wieder ein bisschen runterzuholen. Was wir aus Zürich nicht kennen: Es herrschte eine völlig friedliche Stimmung. Ausserdem haben wir hier keine Reitschule. Wir können uns nicht in der Nähe des Hauptbahnhofs auf einem grossen Platz ungestört besammeln. In Zürich musst du immer gleich eine Barrikade gegen die Polizei aufstellen. Das macht eine Massenmobilisierung wie neulich in Bern viel schwieriger. Mehr als 3000 Leute kriegt man so nicht zusammen.

Freiräume sind für mich auch immer schon der Beginn der Gentrifizierung. Wenn ich irgendwo in der Pampa ein Konzert veranstalte, dann trage ich dazu bei, dass diese Gegend auf dem Markt attraktiver wird. Gleichzeitig lassen sich nur an solchen verlorenen, verlassenen Orten Konzerte organisieren. Probier das mal in der Roten Fabrik. Da diskutierst du drei Minuten, und dann sagst du: ‹Gut, Leute, alles klar.› Das ist alles viel zu verkrustet. Es herrschen noch die Strukturen, die aus den Achtzigern stammen. Die Bewegten von damals fragen uns jetzt vorwurfsvoll: ‹Ja, wofür kämpft ihr denn eigentlich? Das Kulturangebot ist doch so gross wie noch nie.› Dann sage ich: ‹Leute, eure Kulturlokale kosten mich jedes Mal einen Fünfziger. Das geht nicht. Und ihr habt zu viele Regeln, zu viele Auflagen, zu viele fixe Vorstellungen.›

Es geht jetzt was. Es kommen jetzt auch andere Leute, noch jüngere, die was anzetteln. Mir persönlich ging in Bern der Knopf auf. Bisher war ich paranoid, als ich aber inmitten all dieser Leute stand, sagte ich mir: Jetzt bin ich immun, wie ein Diplomat. Ich tu nichts Schlimmes, ich tu jetzt nur das, was ich will, und wenn das illegal sein soll, ist es mir egal.»

Bern, grosse Schanze : Giftgrünes Wasser am «Summer Beach»

Und dann färbte sich das Wasser des Lebensbrunnens auf der grossen Schanze in Bern auf einmal giftgrün: Am frühen Samstagabend waren acht Leute der Jungen Alternative Bern (JA!) auf das Gelände des «Summer Beach» vor der Uni und oberhalb des Bahnhofs spaziert, um auch am von Bambus und Palmen gesäumten Stadtstrand, wo «auffälligen und störenden Besuchern der Zutritt verweigert werden kann», auf die gegenwärtige Freiraumdebatte und die Kommerzialisierung des öffentlichen Raums aufmerksam zu machen: «Wir lassen uns nicht weg(t)räumen», war auf ihren Transparenten zu lesen. Auf der Grossleinwand lief schon die Fussball-EM-Partie zwischen Holland und Dänemark. Dann verteilte einer der jungen Alternativen im grossen Brunnen der Gated Community mit «Strandfeeling» grüne Farbe (selbstverständlich wasserschonend).

Als die AktivistInnen den Beach-Gästen dann auch noch ihre Transparente zeigen wollten, wurde es Beat Hofer zu viel: Der Initiator und Sicherheitschef des «Summer Beach» in Personalunion preschte vor, um den JA!-Leuten die Leintücher zu entreissen. Als eine Aktivistin ihres nicht hergeben wollte, wurde sie von Hofer mit einer Art Schwingergriff zu Boden (gemäss Website des «Summer Beach» «reinster Quarzsand») geworfen. Dann erteilte Hofer sämtlichen Involvierten ein Hausverbot und rief die Polizei. Gegenüber der WOZ wollte er nichts mehr sagen: «Ich will hier keine Fragen, die Sache ist uns zu blöd.» Vor dem Eingang des «Summer Beach» wurden die Jungen Alternativen durch die vorfahrende Streife schliesslich von der Grossen Schanze weggewiesen. Beni Thurnheer meldete über die Lautsprecher aus Charkow, Ostukraine: «Das Spiel gewinnt an Fahrt.»
Dominik Gross