Nachhaltigkeit in der Schweiz: Die ökologische Bilanz fällt negativ aus

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«Nachhaltigkeit» ist ein zentrales Ziel auch der nationalen Politik. Die Schweiz erreicht es mehrheitlich nicht. Ökonomisch ist die Bilanz besser als ökologisch.

Die Uno-Konferenz über Umwelt und Entwicklung von 1992 in Rio de Janeiro erhob die «Nachhaltigkeit» (Sustainability) zum globalen Ziel für Natur, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Schweiz verankerte dieses Ziel später in Artikel 2 der Bundesverfassung: Die Schweizerische Eidgenossenschaft «fördert die gemeinsame Wohlfahrt, die nachhaltige Entwicklung, den inneren Zusammenhalt und die kulturelle Vielfalt des Landes», heisst es dort. Um den abstrakten und beliebig gewordenen Begriff fassbar zu machen, wählte der Bund ökonomische, ökologische und soziale Indikatoren, mit denen sich die «nachhaltige Entwicklung» messen und statistisch auswerten lässt.

Das Bundesamt für Statistik hat vor kurzem einen neuen Nachhaltigkeitsbericht veröffentlicht. Zwanzig Jahre nach dem Gipfel in Rio lässt sich so abschätzen, wo und wieweit die Schweiz einen nachhaltigen Kurs verfolgt, erreicht oder verfehlt.

Mit 36 gegen 33 im Minus

Die Nachhaltigkeitsstatistik umfasst 72 Indikatoren. Bei jedem legte der Bund die «angestrebte Entwicklung» mit einem Pfeil fest. Dieser zeigt entweder aufwärts, abwärts oder seitwärts. So ist es etwa im Sinn der Nachhaltigkeit erstrebenswert, wenn die Produktivität der Arbeit steigt, der Energieverbrauch sinkt und die Siedlungsfläche nicht weiter zunimmt. Dieser angestrebten wird die tatsächliche Entwicklung der Indikatoren gegenübergestellt, soweit sich diese erfassen lässt. Im Idealfall beginnen die Datenreihen im Jahr 1992, als die Nachhaltigkeitsstrategie startete.

Die Resultate im Überblick:

  •  Erfolg: Bei 33 Indikatoren entspricht die tatsächliche der angestrebten Entwicklung. So hat die Arbeitsproduktivität zugenommen, die ökologische Qualität des Waldes, der Anteil des öffentlichen Personenverkehrs oder die Lebenszeit mit guter Gesundheit. Wie angestrebt gesunken sind der Schadstoffeintrag in die Seen und die Feinstaubkonzentration in der Atemluft.
  • Misserfolg: Bei 36 Indikatoren wird die angestrebte Entwicklung verfehlt. So sind zum Beispiel Energieverbrauch, Materialbedarf, Siedlungsfläche, Abfall und Übergewicht weiter gestiegen. Die Zunahme der Lebenszufriedenheit wurde verfehlt wie der Anstieg des frei verfügbaren Einkommens (weil die Zunahme der mittleren und tiefen Einkommen durch stark steigende Krankenkassenprämien und Wohnkosten überkompensiert wurde).
  • Bei drei Indikatoren fehlt mangels Daten ein klares Ergebnis.

Im Konzept der Nachhaltigkeit bilden die drei Ziele Naturverträglichkeit, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und gesellschaftliche Solidarität gleichwertige Säulen. In Wirklichkeit aber gibt es vielerlei Konflikte. So fördern die vom Bund angestrebte zunehmende Produktivität und abnehmende Erwerbslosigkeit das Wachstum der Wirtschaft. Eine wachsende Wirtschaft fördert jedoch Material-, Energie- und Landverbrauch, also Dinge, die im Interesse von Natur und Gesellschaft abnehmen sollten.

Ebenso aufschlussreich wie die Gesamtbilanz sind darum die Teilresultate. Dabei zeigt sich: Bei wirtschaftlichen Indikatoren oder Indikatoren, bei denen sich Ökonomie und Ökologie überschneiden, wird die angestrebte Entwicklung öfter erreicht als dort, wo es primär um ökologische oder gesellschaftliche Nachhaltigkeit geht. So nahm zum Beispiel der Endenergieverbrauch zu, nämlich um neun Prozent von 1992 bis 2010. Das ergibt ökologisch einen Minuspunkt. Aber dieser Energiekonsum wuchs in den letzten Jahren weniger stark als die Wirtschaft, gemessen am teuerungsbereinigten Bruttoinlandsprodukt. Darum verminderte sich – wie angestrebt – die Energieintensität der Wirtschaft, nämlich um 18 Prozent seit 1992. Das wird als ökonomischer Pluspunkt gewertet. Insgesamt ist die ökologische und soziale Bilanz negativer als die nur leicht negative Gesamtbilanz.

Wirtschaft von Natur abhängig

Der Stellenwert der einzelnen Indikatoren ist sehr unterschiedlich. Beispiel: Der ökologische Fussabdruck, der den gesamten Naturverbrauch pro Kopf erfasst, ist ein gewichtigerer Indikator als die ökologische Qualität allein des Waldes. Dieser unerwünscht wachsende Fussabdruck müsste deshalb stärker ins Gewicht fallen als die erwünschte Verbesserung des Waldes. Der Bericht berücksichtigt dies nicht. Fragwürdig ist auch, dass Naturerhaltung und Wirtschaft gleich gewichtet werden. Denn die Natur kann ohne Wirtschaft leben, die Wirtschaft aber nicht ohne Natur.

Obwohl die Resultate des vorliegenden Nachhaltigkeitsberichts also relativiert werden müssen, ist es sinnvoll, dass die Schweiz versucht, ihre Nachhaltigkeit zu messen. Die Nachhaltigkeitsindikatoren schaffen das notwendige Gegengewicht zum allgegenwärtigen Bruttoinlandsprodukt, das einseitig den Umfang und das Wachstum der Wirtschaft misst. In der Bundesverfassung gibt es – im Unterschied zur nachhaltigen Entwicklung – keinen Auftrag zur Förderung des Wirtschaftswachstums.

Die Nachhaltigkeitsstatistik ist einsehbar auf www.bfs.admin.ch («Nachhaltige Entwicklung», Taschenstatistik vom 30. Januar 2012 und Bericht vom 30. April 2012).

Lokale Agenda 21 – das beispiel Illnau-Effretikon : Am besten laufen Energie und Kultur

Als umweltpolitisches Aktionsprogramm wurde die Agenda 21 1992 in Rio gestartet. Damit sollte ein partnerschaftlicher Weg in eine ökologisch gerechte und sozial verträgliche Zukunft eingeschlagen werden. In der Schweiz publizierte der Bundesrat 1997 eine Strategie für eine nachhaltige Entwicklung.

Die Stadt Illnau-Effretikon erteilte zwei Jahre später dem Forum 21 den Auftrag, eine lokale Agenda 21 zu erarbeiten. In einer «Stadtwerkstatt» mit über 400 Teilnehmenden wurden sechs Bereiche definiert, in denen man tätig werden wollte: Energie, Natur, Kultur, Solidarität, Markt- und Wohnstadt.

Das Forum verstand sich dabei stets als Promotionsagentur: Es lanciert neue Ideen in breiten Kreisen und versucht, mögliche VerantwortungsträgerInnen für die Umsetzung zu motivieren. Regelmässig organisiert es Informationsanlässe für Interessierte, Gewerbetreibende, LiegenschaftsbesitzerInnen und Haushalte – etwa zu alternativen Heizanlagen. Ein konkretes Projekt im Energiebereich hat sich bisher noch nicht realisieren lassen.

Spricht man Fachleute auf das Thema Agenda 21 an, halten sich Hoffnung und Enttäuschung die Waage. Sechzehn Kantone haben Strategien zur Nachhaltigkeit entwickelt, wie eine Zusammenstellung des Bundesamts für Raumentwicklung zeigt. In 220 Gemeinden ist die lokale Umsetzung der Agenda 21 institutionell verankert – und so rund ein Drittel der Schweizer Bevölkerung direkt angesprochen. Am häufigsten behandelt wird das Thema Verkehr und Mobilität – und dann die Bereiche Natur und Energie. Weiter hinten stehen soziale und wirtschaftliche Themen.

In Illnau-Effretikon hatte das Forum 21 vor allem in den Bereichen Natur und Kultur Erfolg. Naturschutz wird immer mehr auch innerhalb des Siedlungsgebiets betrieben. Mit dem Ziel, die Quartiere naturnah und fachgerecht zu begrünen. Von Erfolg gekrönt war das Engagement des Forums zur Erhaltung des Bahnhofs Illnau. Dank seiner Initiative ist in der ehemaligen Schalterhalle das «Kafi Gleis 11» entstanden. In der angrenzenden Scheune betreibt eine lokale Brauerei ihr Lager.
Ralph Hug