Geschichtsschreibung: Hier wird der Anarchismus eingeordnet

Nr. 26 –

Seit 48 Jahren arbeitet Marianne Enckell in einem Archiv zum Anarchismus. Nie hat sie dafür Lohn erhalten. Aber jeden Tag Post aus aller Welt.

«Mit der Zeit bin ich selber zur Anarchistin geworden»: Marianne Enckell mit einem Porträt des französischen Anarchisten Jean Jacques Élisée Reclus (1830–1905).

«Internationales Zentrum zur Forschung über Anarchismus». Sie muss lächeln, wenn sie das sagt: Marianne Enckell widmet sich schon ein knappes halbes Jahrhundert lang dem Archiv mit dem «nicht gerade bescheidenen Namen». Genauer: seit 1963, als sie zusammen mit ihrer Mutter Marie-Christine Mikhaïlo das Centre International de Recherches sur l’Anarchisme (CIRA) vom italienischen Anarchisten und Kriegsdienstverweigerer Pietro Ferrua übernahm. Ferrua hatte von 1957 bis zu seiner Ausweisung aus der Schweiz in einem Genfer Zimmer anarchistische Bücher und Broschüren aufbewahrt. Die beiden Frauen brachten diese Bibliothek zuerst in einem Zimmer ihrer Familienpension in Lausanne unter, wo das CIRA 1989 nach mehreren Ortswechseln zwischen Genf und Lausanne wieder angekommen ist und einen definitiven Platz gefunden hat.

Mit den Legenden aufräumen

In unmittelbarer Nähe des Lausanner Universitätsspitals, versteckt hinter einer dichten Hecke, befindet sich das grosse Landhaus, in dem auch Marianne Enckell lebt. Nur ein kleines Schild am linken Gebäudeflügel weist darauf hin, dass sich hier das CIRA befindet. Hinter der massiven Tür erstreckt sich auf zwei Etagen ein kleines Universum: In Regalen, die bis zur hohen Decke reichen, stehen rund 20 000  Bücher und Broschüren, liegen 4000 Zeitschriften, persönliche Archive, Audio- und Videoaufnahmen sowie eine grosse Bildersammlung, darunter ungefähr 3000 Plakate.

Alles ist fein säuberlich katalogisiert und archiviert – denn, so Enckell: «Um in einem Archiv zu arbeiten, muss man sehr ordentlich sein – auch als Anarchistin.» Es kämen sogar manchmal Schulklassen vorbei, um zu lernen, was ein Archiv ist. Die Grundidee des CIRA sei es, alles, was mit Anarchismus zu tun habe, aufzubewahren und Interessierten zur Verfügung zu stellen – wie etwa GymnasiastInnen, die eine Arbeit über Anarchismus schreiben wollen. Enckell versteht diese Aufgabe als eine Verantwortung der anarchistischen Bewegung gegenüber: «Die Bedeutung und die historische Rolle des Anarchismus wurden lange verkannt. Das CIRA soll dazu beitragen, mit den Legenden über den schwarz gewandeten Anarchisten mit der Bombe unterm Arm aufzuräumen.»

Ihre eigene Rolle sieht sie darin, das Wissen, das sie sich über die Jahrzehnte hinweg angeeignet hat, weiterzugeben – sie habe etwa einmal eine Liste von Autorinnen erstellt. Aber auch darin, den BesucherInnen zuzuhören. «Ich lerne immer noch viel dazu. Wenn beispielsweise jemand an einem spannenden Forschungsthema arbeitet, frage ich schon mal danach, die Bibliografie behalten zu dürfen.»

Von Proudhon bis Batman

Im CIRA finden sich Werke von AnarchistInnen genauso wie Aussagen über den Anarchismus. «Wir zensieren nichts, auch wenn uns etwas nicht interessant erscheint. Jedes Werk hat den gleichen Wert», so Enckell. Inzwischen sind knapp dreissig Sprachen vertreten, darunter auch Japanisch, Russisch, Jiddisch, Esperanto; der Grossteil der Sammlung ist aber auf Französisch, Deutsch, Englisch, Spanisch und Italienisch verfasst.

Es gibt Historisches, wie eine von Pierre-Joseph Proudhon 1850 herausgegebene Zeitschrift, die das CIRA von einem Mitglied bekam, der sie beim Umbau eines Hauses fand – sie hatte als Teil der Isolationsschicht gedient. Aber auch ein biografisches Lexikon der anarchistischen Bewegung in Japan oder vier Nummern des Comics «Batman: Anarky». Das Archiv besteht aus Schenkungen – seit der Gründung funktioniert das CIRA grösstenteils ohne Geld. «Sogar die Computerprogramme sind Freeware», sagt Enckell. Alles, was das CIRA besitzt, erhielt es von Verlagen, AutorInnen oder Einzelpersonen: «Fast jeden Tag bringt die Post ein bis zwei Pakete.»

Um die Katalogisierung und anderes kümmern sich neben Marianne Enckell zwei weitere Personen sowie Zivildienstleistende. Nur für eine kleine Teilzeitstelle gibt es Entgelt und auch das nur, solange die Geldreserven ausreichen, die aus den jährlichen Mitgliedsbeiträgen und Spenden stammen. Marianne Enckell selbst arbeitet ausserhalb des Archivs als Übersetzerin.

Sie könne inzwischen sogar Texte auf Norwegisch lesen, erzählt sie. Allerdings nur solche über Anarchismus – «ein Kochrezept hingegen würde ich nicht verstehen». Für einfache Kommunikation reichten ihre Sprachkenntnisse aber aus; wer sich ans CIRA wenden wolle, solle deshalb in der Muttersprache schreiben und «bloss nicht mit Google Translator!». Das CIRA selbst stehe allen Interessierten offen, ob AnarchistIn oder nicht. Sie sei zwar selbst mit der Zeit Anarchistin geworden, so Marianne Enckell, aber: «Ich könnte es auch nicht sein und trotzdem hier arbeiten.»

Mehr Informationen und Onlinekatalog 
unter www.cira.ch