Maison d’Ailleurs: Angewandte Science-Fiction

Nr. 31 –

Nirgends auf der Welt befinden sich so viele Dokumente, die mit Science-Fiction zu tun haben, wie im Maison d’Ailleurs in Yverdon. Museumsdirektor Marc Atallah möchte die Leute dazu bewegen, Denkweisen der Science-Fiction auch im Alltag anzuwenden.

Hier kann der Physiker und Sprachwissenschaftler seine Interessen miteinander verbinden: Museumsleiter Marc Atallah auf der Brücke, die die Vergangenheit der Science-Fiction mit deren Zukunft verbindet.

«Maison d’Ailleurs» steht in grossen Buchstaben an der Place Pestalozzi. Das Gebäude Nr. 14, ein gelbes Sandsteinhaus, sieht selbst nicht aus, als wäre es «von anderswo» – zu organisch passt das einstige Stadtgefängnis aus dem 18. Jahrhundert in die schmucke Altstadt von Yverdon-les-Bains.

Seit zwanzig Jahren befindet sich hier ein «Museum für Science-Fiction, Utopien und aussergewöhnliche Reisen». Initiiert wurde es vom französischen Schriftsteller und Sammler Pierre Versins (1923–2001): 1976 hinterliess Versins der Stadt Yverdon die unzähligen Science-Fiction-Werke, die er zusammengetragen hatte. 
So entstand das Maison d’Ailleurs – benannt nach dem von Versins mitgestalteten Fanzine «Ailleurs».

Yverdon-les-Bains ist seither nicht nur ein historisches Städtchen mit Thermalbädern, sondern auch eine Kultstätte für Science-Fiction-FanatikerInnen: An keinem anderen Ort der Welt befinden sich so viele Bilder, Zeitschriften, Plakate, Bücher, Spielzeuge, Comics oder Kunstwerke rund um dieses Gebiet. Das Maison d’Ailleurs ist aber auch ein einmaliges Forschungszentrum: Neben Akademikerinnen, Bibliothekaren und Verlegerinnen empfing das Haus auch schon eine Delegation der Europäischen Weltraumorganisation, die hier eine Studie über die in der Science-Fiction beschriebenen Technologien in Auftrag gab – als Inspiration für die Weiterentwicklung der realen Raumfahrttechnologie.

«Wenn wir aus unserem heutigen Wissen darauf schliessen, wie ein Objekt weiterentwickelt und verbessert werden könnte, dann befinden wir uns bereits mitten in der Science-Fiction», sagt Marc Atallah, der 34-jährige Museumsdirektor. Der Mann mit der schwarzen Schiebermütze führt uns als Erstes zu einer futuristisch wirkenden Metallbrücke: Sie verbindet zwei Museumsteile und deren Inhalte – die Vergangenheit der Science-Fiction mit deren Zukunft.

Zurück in die Gegenwart

Letztlich aber steht im Maison d’Ailleurs die Gegenwart im Vordergrund. Denn ob in Literatur und Film oder in der bildenden Kunst: Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich die Science-Fiction immer wieder als Spiegel der Gegenwart. Fiktive Welten sagen oft mehr aus über die Gesellschaft, in der sie jeweils erdacht wurden, als über die Zukunft.

Zukunftsvisionen und futuristische Fantasien gab es zwar schon in der Renaissance. Doch das eigentliche Genre ist ein Kind des 19. Jahrhunderts, das wie kaum ein anderes von technischen Fortschritten geprägt war. Inzwischen ist die Science-Fiction längst ein Teil der Volkskultur – man denke etwa an «Star Wars»-Filme oder George Orwells Roman «1984».

Warum aber stellen wir Wissenschaft und Technik heute so wenig infrage – wo sie doch inzwischen unsere Welt bis ins Innerste durchdringen? Einen Grund dafür sieht Atallah in der Allgegenwart des technischen Fortschritts und des damit verbundenen Profitdenkens. Genau hier hake die Science-Fiction ein: indem sie aufzeige, «wie die Technik unsere Wahrnehmung der Welt verändert».

Die Distanz, die durch die Erzählung dessen geschaffen werde, was geschehen könnte, helfe uns, gewisse Entwicklungen infrage zu stellen: «Science-Fiction-Filme bieten die Möglichkeit, uns mit den Gegebenheiten unseres Menschseins neu auseinanderzusetzen.» So etwa inszeniert die «Matrix»-Trilogie eine Welt, in der künstliche Intelligenz die Menschheit dominiert – was uns den Spielraum eröffnet, darüber nachzudenken, unter welchen Umständen wir uns noch als Menschen fühlen und welche Grenzen wir der künstlichen Intelligenz allenfalls setzen möchten.

Atallah, der das Museum seit eineinhalb Jahren leitet, interessiert sich vor allem für den «problematischen» Teil der Science-Fiction, der aufzeigt, wie sehr Wissenschaft und Technik auf uns einwirken und so auch unser Denken und unsere Moralvorstellungen verändern. So könne die Science-Fiction uns auch helfen, über diese unsere veränderte Moral nachzudenken: Was heisst es zum Beispiel, moralisch zu sein in einer Welt, in der wir täglich acht Stunden mit dem Internet verbunden sind?

Als moralischen Ratgeber aber sieht Atallah die Science-Fiction nicht. Vielmehr sage sie: «Erschliesst euch diese neuen Möglichkeiten – aber seid euch bewusst, dass dies eine Auswirkung auf eure Moral haben wird.» Es gehe nicht darum, zu werten, sondern darum, das Publikum das Potenzial dieser «moralischen Umverteilung» entdecken zu lassen – jenes der Entfremdung ebenso wie jenes der Befreiung.

Wie die Science-Fiction selbst steht auch Marc Atallah an der Kreuzung zwischen Unterhaltung und Wissenschaft: Neben seiner Tätigkeit im Maison d’Ailleurs arbeitet er als Lehr-und Forschungsbeauftragter an der Universität Lausanne. Dabei lernte er, der zunächst theoretische Physik an der ETH und später französische Sprachwissenschaften und Philosophie an der Universität in Lausanne studierte, die Science-Fiction erst während seiner Doktorarbeit kennen – so hat er das Terrain gefunden, in dem er seine beiden Interessengebiete, Natur- und Geisteswissenschaften, miteinander verbinden kann.

Atallah hat keine museologische Ausbildung absolviert. Vielleicht erklärt sich gerade dadurch die aussergewöhnliche Art, wie im Maison d’Ailleurs gedacht und gestaltet wird. Ein Museum, so Atallah, sei für ihn zuerst einmal ein Hort des Kulturerbes, ein Fundus an Zeitzeugnissen. Um den gesellschaftlichen Nutzen dieses Erbes aufzuzeigen, organisiert das Museum Ausstellungen, die zeigen, aus welcher Kulturgeschichte die zeitgenössische Science-Fiction-Kunst hervorgeht.

Nachdenken über Videospiele

Vor allem aber sieht Atallah im Maison d’Ailleurs einen Ort der Debatte, an dem über Dinge nachgedacht wird, die sonst kaum reflektiert werden. In diesem Sinn ist auch die aktuelle Ausstellung «Playtime – Videogames mythologies» über Videospiele konzipiert (vgl. «Playtime» im Anschluss an diesen Text): «Videospiele zum Beispiel nehmen wir ja vor allem als reine Unterhaltung wahr und fragen uns höchstens, ob sie gut oder schlecht sind für Jugendliche, aber wir denken kaum über das Videospiel an sich nach – genau so wie Wissenschaft und Technologien zwar Hoffnungen oder Ängste in uns wecken, aber trotzdem meist als gegeben hingenommen werden.»

Und schon arbeitet Atallah an einer Ausstellung für das Jahr 2014: Dannzumal soll es um «Superhelden» gehen. Dabei wird aber nicht etwa Supermans Originalkostüm zu bestaunen sein; vielmehr sollen unterschiedliche Bilder im Zentrum stehen, die sich zeitgenössische KünstlerInnen von Superman machen. Und worin besteht der Erkenntnisgewinn? «Wahrscheinlich werden Sie, nachdem Sie die Ausstellung gesehen haben, nicht aufhören, ins Fitnessstudio zu gehen», lacht Atallah: «Aber vielleicht wird Ihnen dadurch bewusster, wie sehr einige Ihrer Ansichten, wie etwa die Bewertung von Leistung, von gewissen Darstellungen geprägt sind.»

Jules Vernes Universum

In den nächsten Jahren möchte Atallah das Maison d’Ailleurs umgestalten. Bislang befindet sich im vierstöckigen Haus, in dem das Museum seit 1991 untergebracht ist, jeweils die aktuelle Sonderausstellung. Über eine elegant geschwungene Metallbrücke erreichen die BesucherInnen den vor vier Jahren eingeweihten «Espace Jules Verne» – einen hohen Raum voller Bücher, in dem mittels Schaukästen, Filmen und einem ausgeklügelten Plakatrotationssystem das Universum Jules Vernes zu entdecken ist.

Atallah möchte die beiden durch eine Strasse getrennten Räume näher zusammenbringen und für jede neue Ausstellung ein museales Gesamtkonzept erarbeiten. Auf den ersten zwei Stockwerken des Hauptgebäudes sollen Stücke aus der hauseigenen Sammlung ausgestellt sein – die Instrumente quasi, mit denen man die Werke von zeitgenössischen KünstlerInnen in den oberen Etagen besser verstehen kann. Im «Espace Jules Verne» schliesslich soll das Publikum wieder zum Ursprung zurückkehren – zu Verne, dessen «aussergewöhnliche Reisen» ein Vorläufer des Science-Fiction-Genres waren: «Es soll ein Zusammenhang entstehen zwischen der Volkskultur des 19. Jahrhunderts, der Kulturgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts und den zeitgenössichen Darstellungen, die unsere jetzige Welt hinterfragen.» Das heisst auch, dass das ganze Museum regelmässig neu bestückt wird. Er wolle, dass alles in Bewegung bleibe, meint Atallah: «Ich habe Lust, Geschichten zu erforschen, die noch nie erzählt wurden.»

Nach dem Museumsbesuch liegt die Altstadt von Yverdon immer noch wie eine leicht verschlafene Schönheit da. Und die zwischen den Häusern schwebende Metallbrücke wirkt nicht mehr wie ein Fremdkörper, sondern passt perfekt in diese Stadt.

Maison d’Ailleurs, Place Pestalozzi 14,
Yverdon-les-Bains. www.ailleurs.ch

«Playtime»

In der aktuellen Sonderausstellung des Maison d’Ailleurs werden die BesucherInnen interaktiv in die Zusammenhänge zwischen dem Spielerischen bei Videospielen und den ihnen zugrunde liegenden Technologien eingeführt. Zu sehen sind historische Dokumente ebenso wie Beispiele aus der Game Art und innovative Games: «Rules of Play / The Game of Life» führt in die Spielmechanismen ein; «Game Geographies and Playnations» widmet sich der räumlichen Dimension der Spiele; «Bodies and Minds» behandelt die Beziehung der SpielerInnen zu ihren Avataren und den Einbezug des Körpers in die Spielerfahrung; und «Assault on Reality» stellt Kreationen vor, in denen Realität und Virtualität verschmelzen.

«Playtime – Videogames mythologies» 
läuft noch bis 9. Dezember 2012.