Medientagebuch: Imam ohne Lüste

Nr. 33 –

Eine Facebook-Satire mit fatalen Folgen.

Imam Naghi ist ein seltsamer Heiliger: Er ist latent dem Alkohol zugetan, er frönt dem Glücksspiel und kümmert sich herzlich wenig darum, dass der Islam dies verbietet. Und dann sind da noch diese sexuellen Gelüste, wie sie einem Mann seines Standes wahrlich nicht gut zu Gesicht stehen, zumal er, was die Orientierung betrifft, recht flexibel ist.

So sieht das zumindest die satirische farsisprachige Facebook-Seite «Kampagne, um die Schiiten an Imam Naghi zu erinnern». Im Mai 2011 machten sich junge Iraner aus dem In- und Ausland daran, dem zehnten der zwölf unfehlbaren Imams des schiitischen Islam eine neue Identität zu geben. Motto: Nichts ist zu heilig, um darüber Witze zu machen. Dass es Naghi traf, ist Zufall. Biografische Begebenheiten über den Heiligen aus dem 9. Jahrhundert sind wenig bekannt. Eine aber prädestiniert ihn als Zielscheibe des Highschoolhumors: Die überlieferte Ursache seines Todes war vergifteter Traubensaft.

Lange nahm die Community die Sache selbst nicht ernst. In diesem Sommer jedoch überschlugen sich die Ereignisse. Im Mai veröffentlichte der iranische Rapper Shahin Najafi im deutschen Exil den Song «Naghi», in dem es von sexuellen Anspielungen und sozialkritischen Verweisen auf die Situation im Iran wimmelt. Kurz darauf verhängten mehrere Grossajatollahs Todesfatwas gegen Najafi wegen «Abtrünnigkeit». Die Website «Shia Online» setzte ein Kopfgeld von 100 000  US-Dollar auf ihn aus.

Nachdem der Rapper in Interviews die Naghi-Kampagne als Inspirationsquelle genannt hatte, geriet auch die Website mit ihren 22 000 «Likes» ins Fadenkreuz des Regimes. Wenig später wurde in Teheran der Vater eines Community-Mitglieds vom Geheimdienst festgenommen: Yashar Khameneh, Student in den Niederlanden, hatte mehrere selbst produzierte Naghi-Videos und Witze über den Imam gepostet. Aus Teheran machte man Khameneh klar, sein Vater werde erst entlassen, wenn die Seite offline gehe.

Abbas Khameneh, der Vater, hat weder einen Anwalt, noch darf er Besuch empfangen. Über sein Verbrechen, sagt der Sohn, hätten die Häscher gegenüber dem Vater kein Wort verloren. Fazit: «Eine Geiselnahme.» Yashar Khameneh selbst ist inzwischen abgetaucht, da nach Angaben der regimekritischen Journalistin Fereshteh Ghazi weitere Mitglieder der Naghi-Seite im Iran inhaftiert seien. Wie ernst die Sache ist, zeigt sich daran, dass Yashar Khameneh in den Niederlanden inzwischen als politisch Verfolgter anerkannt wurde.

Seine Lage ist misslich. Dem Ziel der Meinungsfreiheit sieht er sich weiterhin verpflichtet: «Wir greifen niemanden an. Es geht uns nicht darum, den Islam zu zerstören, sondern um das Recht der Religionskritik.» Andererseits ist da der Vater, dem er trotz grosser Sorge nicht helfen kann. Der zuständige Webadministrator antwortete nicht auf Khamenehs Bitte, die Seite offline zu schalten.

Viele internationale Medien widmeten sich in diesem Sommer dem Fall. Er passt ins Bild eines Regimes, das als einer der rabiatesten Zensoren des Internets bekannt ist, eine Cyber Army zur Bekämpfung von Onlinedissidenten unterhält und das Ziel des sogenannten Halal-Internets verfolgt. Diese Koordinaten bilden den Rahmen für die inzwischen fast dreimonatige Inhaftierung Abbas Khamenehs. Der Familie wurde bereits mit seiner Exekution gedroht.

Tobias Müller schreibt für die WOZ 
aus den Niederlanden.