Genfer Verfassung: Der Kampf gegen AKWs wird schwieriger

Nr. 39 –

Genf stimmt Mitte Oktober über eine neue Kantonsverfassung ab. Sie ist heftig umstritten – nicht zuletzt, weil ein Anti-AKW-Artikel auf der Kippe steht.

Gerade mal siebzig Kilometer liegt Bugey im französischen Departement Ain von Genf entfernt. Dort wird – auf dem Gelände des zweitältesten AKWs Frankreichs – ein gigantisches Zwischenlager für radioaktive Abfälle gebaut. Im Moment ruhen die Bauarbeiten, denn die AnwohnerInnen haben einen Fehler im Baubewilligungsverfahren entdeckt. Der Bau eines Atommülllagers widerspricht dem aktuellen Zonenplan. Die Gemeinde Bugey ist nun daran, einen neuen durchzupeitschen, und die Bauherrin Electricité de France (EDF) verkündet, spätestens 2015 werde die Deponie in Betrieb genommen. Die französische Zeitung «Le Monde» schätzt das anders ein: Mit dem kürzlich eingereichten Rekurs von Stadt und Kanton Genf, beruhend auf der Genfer Kantonsverfassung, sei ein neues, ernsthaftes Hindernis für den Bau aufgetaucht, schreibt sie.

Ein Rekurs aus Genf? «Das AKW Bugey konnten wir nicht verhindern, doch für den Kampf gegen die Atommülldeponie Bugey können wir uns heute auf die Kantonsverfassung stützen», erklärt Anne-Cécile Reimann, die «Pasionaria» der Genfer Anti-AKW-Bewegung Contratom. Ihr Übername bezieht sich auf den Slogan «¡No pasaran!» und ist eine Hommage an die spanische Antifaschistin Dolores Ibarruri, genannt «La Pasionaria», aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Der Rekurs aus Genf sei möglich geworden, weil die Anti-AKW-Bewegung nach jahrelangen Kämpfen 1986 den berühmten Artikel 160E in der Verfassung durchgesetzt habe. Dieser Artikel verpflichte die Regierung, sich mit «allen zur Verfügung stehenden juristischen und politischen Mitteln» gegen atomare Installationen im Kanton und seiner Nachbarschaft zur Wehr zu setzen. «Wenn wir gegen Atomindustrie und Atomenergie, gegen energiefressende Bauprojekte und dergleichen mobilisierten, haben wir uns immer auf diesen Artikel berufen können. Nun berufen sich unsere Behörden auf den gleichen Artikel, um gegen die Deponie Bugey vorzugehen», so Reimann.

Verwässert und eingeschränkt

Doch diese Grundlage für den Widerstand ist bedroht, fürchtet Reimann. In der neuen Verfassung, über die Genf am kommenden 14. Oktober abstimmt, ist der Artikel umformuliert worden. «Zuerst sollte er ganz weggelassen werden, doch dann kam die Katastrophe von Fukushima.» Daraufhin habe man die Verpflichtung der Regierung, sich gegen atomare Installationen zu wehren, wieder in den Text hineingenommen. «Die verfassunggebende Versammlung hat aber eine ganze Reihe wesentlicher Bestimmungen auf Gesetzesebene heruntergestuft. Beispielsweise hat sie die Verpflichtung der Regierung, ‹alle politischen und juristischen› Mittel anzuwenden, eingeschränkt. Und sie öffnet der Regierung eine Hintertür, indem sie die Verpflichtung, gegen Atomkraft anzutreten, von den ‹Grenzen der Zuständigkeit› abhängig macht.» Beinahe noch schlimmer: Contratom habe vor fünf Jahren eine Initiative durchgesetzt, die den Industriellen Werken Genf das kantonale Monopol für die Energieversorgung gebe und die Werke verpflichte, gemäss dem Anti-AKW-Artikel zu handeln. «Nach der neuen Verfassung wäre dies nicht mehr gewährleistet.»

Reimann ist überzeugt, dass die Änderungen kein Zufall sind: «Als der Kanton beschlossen hat, eine neue Verfassung auszuarbeiten, war das Parlament bürgerlich dominiert.» Diese Mehrheit habe sich auch in der verfassunggebenden Versammlung durchgesetzt. «Alle Resultate unserer Initiativen und Rekurse, alles, was wir mit unseren Kämpfen erreicht haben, wurde verwässert, eingeschränkt oder vom Tisch gewischt!» Kosten der Übung: fünfzehn Millionen Franken.

Böse Erinnerungen an 1932

Die Vorlage polarisiert wie selten ein politisches Thema in Genf. Die institutionelle Linke stimmt dafür. SP und Grüne stellen sich auf den Standpunkt, die Vorlage berücksichtige sicher nicht alle wünschenswerten Postulate, sei aber auch kein sozialer, ökologischer oder politischer Rückschritt. Auf der Seite der GegnerInnen, vor allem Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften, macht hingegen die «Sabotage von Artikel 160E» ebenso böses Blut wie etwa die verpasste Gelegenheit, mit der neuen Verfassung auch das Ausländerstimm- und -wahlrecht auf Gemeindeebene durchzusetzen. Es fehle ein klares Bekenntnis zu den gleichen beruflichen Rechten für Mann und Frau, es fehle ein kantonaler Minimallohn, die demokratischen Rechte würden eingeschränkt, die ganze Verfassung sei von einem neoliberalen Geist geprägt.

Auch beim Gewerkschaftsdachverband CGAS sind die Fronten verhärtet. Offiziell gilt die Nein-Parole, aber intern gibt es eine Opposition, die im Namen der Realpolitik ein Ja fordert: Es gehe darum, die minimalen sozialen Fortschritte, wie beispielsweise die explizite Anerkennung des Streikrechts, nicht zu gefährden. Gleichzeitig erlaubt die neue Verfassung aber auch, «die Unterstützung der Armee» «für zivile Zwecke» anzufordern. Die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee GSoA warnt: Diese Bestimmung sei eine «noch nie da gewesene Legitimation für die schleichende Militarisierung der inneren Sicherheit». In einer Stadt, in der das Militär 1932 auf demonstrierende AntifaschistInnen schoss und dabei dreizehn Menschen tötete, sei das ein schlechtes Omen für die Zukunft. Ein schlechtes Omen auch für die neue Verfassung?