Polens Kooperativen: Feine Quiches von den GenossInnen

Nr. 39 –

An ihnen haftet noch immer der Geruch aus grauen staatssozialistischen Zeiten. Doch jetzt wächst in Polen die Zahl der Genossenschaften – auch dank der EU.

Viel besser kann man eine Herberge kaum verstecken. Irgendwo an der Rewolucji 1905, der Strasse zur Erinnerung an die Revolution 1905 in Lodz, müsste sie sein. Doch die angegebene Hausnummer 48 bezeichnet nur ein grosses Holztor, an dem ein kleiner Zettel hängt: «La Granda» steht darauf, mehr nicht. Wer hier einbiegt, ist zwar richtig, aber lange noch nicht angekommen. Denn nun geht es über einen hundert Meter langen Hof mit kleinen Hallen und Gewerbebetrieben links und rechts, und erst ganz am hinteren Ende sind weitere Schilder mit dem Hinweis «La Granda» zu entdecken. Aber immerhin: Wer es bis hierher geschafft hat (und das kriegen nicht einmal die einheimischen Taxifahrer immer hin), wird belohnt.

Denn das kleine Hostel mit dem grossen Namen hat viele Vorzüge: Die Zwei- bis Sechsbettzimmer sind frisch renoviert und mit grüner Wandfarbe gestrichen, die Übernachtung kostet je nach Zimmergrösse zwischen 45 und 65 Zloty pro Person (umgerechnet 13 bis 19 Franken), es gibt WLAN, eine Küche, blitzsaubere Duschen und einen Gemeinschaftsraum, den manchmal auch soziale Initiativen nutzen. Das Beste aber ist das Personal: drei junge Frauen und zwei junge Männer, die sich vor einem Jahr zu einer Kooperative zusammenschlossen, die Räume eines früheren Drogenhändlers in eine Pension umbauten und seit April «La Granda» kollektiv und mit grossem Engagement bewirtschaften.

«Die Europäische Union hat da schon ein bisschen nachgeholfen», sagt Krzysiek Walczak, «vier von uns bekamen für die Gründung der Genossenschaft jeweils einen Zuschuss in Höhe von 20 000 Zloty», umgerechnet knapp 6000 Franken. Aber das sei nicht wirklich der Grund dafür gewesen, dass sie sich zu einer Kooperative zusammengeschlossen hätten: Sie alle seien schon vorher in politischen oder sozialen Bewegungen aktiv gewesen, für die Rechte der Frauen und der Schwulen zum Beispiel, bei den (parteiunabhängigen) JungsozialistInnen oder für den Tierschutz. «Da war es natürlich naheliegend, dass wir uns so organisieren.»

Jung, arbeitslos, engagiert

Das sieht auch Ela Zasinska so, die während ihres Studiums Workshops zu Genderfragen organisierte, danach ein Jahr lang herumreiste, sich anschliessend arbeitslos meldete und dann von FreundInnen über das Genossenschaftsprojekt informiert wurde: «‹Willst du da nicht mitmachen?›, haben sie mich gefragt.» Sie wollte.

Olga Karwowska fühlt sich in der Gruppe ebenfalls «gut aufgehoben». Die exzellente Köchin hat ein Fotografiestudium absolviert und würde gern ein zweites Studium anhängen, das ihren Neigungen mehr entspricht. Manchmal ärgert sie sich, etwa wenn der Stundenplan nicht allen präsent ist und andere deswegen länger arbeiten müssen. Und weil der karge Einheitslohn kaum zum Überleben reicht: «Mittlerweile kostet in Lodz ein Bier mehr, als wir in der Stunde verdienen», sagt sie – und doch freut sie sich schon auf den nächsten Morgen. Dann wird sie zwei junge Frauen aus Hongkong in die Stadt begleiten, um ihnen den Markt zu zeigen. Das macht sie gerne.

Alle erledigen abwechselnd die Grundaufgaben: Sie putzen, beantworten Anrufe, sitzen am Empfang, schieben Nachtschichten. Besondere Tätigkeiten haben sie untereinander aufgeteilt: Karwowska kocht, Zasinska besorgt die Buchhaltung, und Walczak kümmert sich um die Website (http://lagranda.pl), die eine andere Kooperative für sie entwickelt hat. Er beginnt jetzt ein Informatikstudium, wird aber weiterhin im «La Granda» arbeiten, schon weil er auf diese Weise Leute aus aller Welt kennenlernt; im Ausland war er noch nie. Die Genossenschaft habe zwar noch Schulden in Höhe von ein paar Tausend Franken, sagt Krzysiek Walczak, und die Auslastung könnte besser sein (sechzig Prozent wären nötig). Aber es mangle ihnen nicht an Ideen – und dann ist da ja noch die Vernetzung mit anderen Kollektiven.

Die Alten und die Neuen

Eines dieser Kollektive operiert im Untergeschoss des Nachbargebäudes. Dort hat sich eine Food-Koop eingerichtet, die den vorwiegend vom internationalen Kapital dominierten Supermärkten etwas entgegensetzen will. «Ohne die Leute von ‹La Granda› gäbe es unser Projekt nicht», sagt die Jungsozialistin Weronika Jozwiek, die nebenbei in der benachbarten Stadt Zgierz die kleine Zeitung «Zgrzyt» mit herausgibt (siehe WOZ Nr. 26/12); «die helfen uns, wo sie nur können.» Das Geschäftsprinzip ihrer Initiative ist einfach: Rund 150 KonsumentInnen geben derzeit ihre Wünsche in eine Onlinedatenbank ein, die Lebensmittel werden auf dem Bauernmarkt besorgt und jeweils donnerstagnachmittags ausgegeben. Wer dann keine Zeit hat, kann das Gemüse am nächsten Tag im «La Granda» abholen. Etwa zwanzig Koop-Mitglieder beteiligen sich aktiv, und wenn sich das System bewährt, wollen sie direkt mit KleinbäuerInnen zusammenarbeiten und – so Jozwiek – zehn Prozent ihrer Einnahmen sozialen Aktionen zukommen lassen, etwa in Form von Lebensmittelhilfe für streikende ArbeiterInnen.

Einer, der die Szene gut kennt, ist Michal Sobczyk, Aktivist, Genossenschaftsgründer und Redaktor der engagierten polnischen Vierteljahreszeitschrift «Nowy Obywatel» (Neuer Bürger), die in Lodz erscheint. «Inzwischen gibt es über 400 Kooperativen in Polen», sagt der 31-Jährige, «einige von ihnen existieren seit langem und haben die vergangenen turbulenten Jahrzehnte überlebt, doch die meisten sind neu.» Die alten Landwirtschafts-, Wohnbau- und Handelsgenossenschaften seien jedoch nur noch der Form nach kooperativ eingestellt, viele junge hingegen hätten noch gesellschaftliche Ziele, sagt Sobczyk, der auch das «La Granda»-Team berät.

Und dann erzählt er vom grossen Kampf der Belegschaft eines Textilunternehmens in Lodz, die sich vor Jahren gegen die Stilllegung des Betriebs wehrte, streikte, dann die Fabrik übernahm und die Firma in Form einer Mitarbeitergesellschaft weiterführte. «Die lokalen Behörden unterstützten das Projekt, doch es konnte im kapitalistischen Umfeld nicht überleben, weil die 150 Beschäftigten keine Kredite bekamen.» Also kaufte das Management die Anteile auf und feuerte die damalige Streikführung. Vor kurzem scheiterte eine weitere Initiative: Das Personal einer psychiatrischen Klinik wollte das Spital in Lodz durch Gründung einer Genossenschaft weiterführen, «doch die Behörden waren zu Verhandlungen nicht bereit». Aber immerhin: Im Laufe der letzten zwei Jahre seien in Lodz fast zwanzig neue Genossenschaften entstanden.

Dass derzeit in Lodz, mit 725 000 EinwohnerInnen die drittgrösste Stadt Polens, Kooperativen boomen, hat zum Teil mit der sozialen Lage zu tun. Die Region gehört zu den ärmsten des Landes; die Arbeitslosigkeit liegt hier offiziell bei dreizehn Prozent, ist aber in Wirklichkeit weit höher. Früher war das anders, früher war Lodz so etwas wie das Manchester Osteuropas: Die Stadt mit ihrem Schachbrettgrundriss entstand erst vor 200 Jahren und war ursprünglich nur als Siedlung für die ArbeiterInnen konzipiert, die in der florierenden Textilindustrie mit ihren riesigen Werkshallen schufteten und die Fabrikanten in ihren Palästen bereicherten.

Arm, aber kreativ

Diese industrielle Vergangenheit sieht man Lodz noch heute an: Es gibt keinen Stadtkern, nur eine Haupteinkaufsstrasse (die Piotrkowska), die Manufaktura (ein französischer Konzern hatte 1999 die alten Textilgebäude der Poznanski-Familie aufgekauft und in ein gigantisches Unterhaltungs- und Einkaufszentrum umgebaut) und eine blasse Erinnerung an das Ghetto von Litzmannstadt, in das die Nazis ab 1941 bis zu 230 000 JüdInnen zusammenpferchten, bevor sie sie in die Todeslager schickten.

Andererseits ist Lodz auch ein kreativer Ort: Der Pianist Arthur Rubinstein und der Architekt Daniel Libeskind kamen hier zur Welt, die örtliche Filmakademie geniesst weltweit einen ausgezeichneten Ruf, es gibt ein reges Kulturleben und über 50 000 Studierende. Einer davon war Grzegorz Sierba, der vor zwei Jahren mit vier KollegInnen (alle HochschulabsolventInnen und ebenfalls jahrelang arbeitslos) eine kleine Beizenkooperative gründete.

Auch das Bistro Zaraz Wracam liegt ein bisschen versteckt in einem Hinterhof, aber immerhin entlang der Piotrkowska mit ihren zahllosen glitzernden Bars und Restaurants. «Wir haben lange nach einem eigenen Ort gesucht», sagt Sierba. «Und jedes Mal, wenn wir uns als soziale Kooperative vorstellten, schreckten die Vermieter zurück.» Die einen, erzählt der studierte Geograf, «dachten beim Wort ‹Genossenschaft› sofort an das kommunistische System, die anderen verknüpften den Begriff ‹sozial› sofort mit Suppenküche für Obdachlose». Aber dann fanden sie doch einen, der zuhörte. Und so servieren die fünf GenossenschafterInnen (zwei weiblich, drei männlich) selbstbestimmt und zum Einheitslohn sechs Tage in der Woche Kaffee, Tee, Bier und vor allem ihre Quiches in allen Variationen den jungen und manchmal eiligen Gästen.

Und wie kamen sie auf die Idee? «Vielleicht aus sentimentalen Gründen», sagt Grzegorz Sierba, «wir wollten nicht aus Lodz weg.» Viele seien nach Warschau gezogen oder ins Ausland emigriert. «Und dann hat uns die Stadtverwaltung, die unsere Initiative unterstützt, den Tipp mit dem EU-Programm gegeben» (vgl. «Interventionen»). Die Beiz läuft gut («Wir haben eine Marktnische gefunden»), und wenn es so weitergeht, will das «Zaraz Wracam»-Kollektiv demnächst eine Milchbar eröffnen.

Auch das «La Granda»-Team hat Pläne. Es will im Keller eine Bar einrichten, vielleicht einen kleinen Cateringservice gründen und oben eine Dachterrasse bauen. Zuallererst aber, verspricht Krzysiek Walczak, hänge er jetzt endlich ein grosses Banner an die Rewolucji 1905.

Interventionen

Der Sejm, das polnische Parlament, debattierte im November 2011 eine Gesetzesvorlage von Abgeordneten der regierenden christlich-konservativen Bürgerplattform Platforma Obywatelska. Diese wollten erreichen, dass es den Behörden künftig erlaubt wäre, Kooperativen per Anordnung in Aktiengesellschaften umzuwandeln. Es war der zweite Anschlag der Rechten auf das polnische Genossenschaftswesen. Zuvor hatten sie einen Teil der Wohnbaugenossenschaften zerschlagen können. Doch der Vorstoss scheiterte – vor allem auf Druck des Internationalen Genossenschaftsverbands ICA.

Das ermöglicht die Fortsetzung eines EU-Programms: Seit einigen Jahren können Gemeinden die Gründung von sozialen Kooperativen mit 20 000 Zloty (rund 6000 Franken) pro Person unterstützen. Voraussetzung: Die AntragstellerInnen müssen arbeitslos sein, obdachlos, suchtkrank oder behindert. Und sie müssen einen Geschäftsplan vorlegen.