Palästina: Wer will schon einen halben Mann?

Nr. 45 –

Eine kleine Organisation, die Palästinenserinnen als Medienfachfrauen ausbildet und Filme für das lokale Fernsehen produziert, stellt das klassische Rollenbild der Frauen infrage.

Begonnen hatte alles mit Suheir Farrajs Schwiegermutter, die ihr von der Nakba erzählte, jener «alles umstürzenden Katastrophe», als 1948 Hunderttausende PalästinenserInnen vertrieben wurden und in einem Teil des historischen Palästina der jüdische Staat entstand. Diese Geschichten von der Flucht, dem Alltag in den Flüchtlingslagern und wie die Frauen gegen alle Widrigkeiten für ihre Familien sorgten, seien derart eindrücklich gewesen, dass in ihr die Idee reifte, sie für andere aufzuzeichnen.

Die heute 42-jährige Filmemacherin hatte jahrelang als Kamerafrau für einen internationalen Fernsehsender gearbeitet. Welchen grossen Einfluss Medien und der Zugang zu Informationen auf das Selbstverständnis einer Gesellschaft haben, war Farraj schon früh klar. Es lag also nahe, dass sie für die Aufzeichnung der «oral history» ihrer Kultur das Medium Film wählte.

Medienausbildung für Frauen

Mit nur tausend US-Dollar Kapital gründete Farraj 2003 mit anderen die Organisation Women and Media Development (TAM), die Video, Internet, Film und Fernsehen zur öffentlichen Meinungsbildung nutzt und sich für die Stärkung der Position palästinensischer Frauen einsetzt. «Heute beträgt das Jahresbudget rund 400 000 US-Dollar», sagt Farraj. Die Gelder stammten von verschiedenen staatlichen Institutionen aus Europa und den USA sowie von internationalen nichtstaatlichen Organisationen.

Ende November wird Farraj die Arbeit von TAM im Rahmenprogramm der Ausstellung «Die Nakba» vorstellen (vgl. «Die Nakba in Bern»). Denn längst geht es TAM nicht mehr nur um die Aufzeichnung von Geschichten. «Wir bilden Frauen als Journalistinnen, an der Kamera oder im Filmschnitt aus. Diese produzieren dann Dokumentar- und Spielfilme, Talkshows sowie Informationssendungen.» Die Produktionen von TAM werden von acht palästinensischen Fernsehstationen übertragen.

Von der Politik hält sich TAM bewusst fern. «Wir sind eine unabhängige, feministische Organisation und würden uns nie von einer Seite vereinnahmen lassen. Es ist Privatsache, ob jemand die Hamas oder die Fatah unterstützt», stellt Farraj klar. «Unsere Position ist: Wir fordern einen freien Staat Palästina und für die Flüchtlinge das Recht auf Rückkehr. Und wir kämpfen gegen die Trennung zwischen Gaza und Westjordanland sowie gegen die allgegenwärtige Korruption.»

Natürlich sei es unvermeidlich, auch religiöse Fragen anzusprechen, da diese einen wichtigen Bestandteil des Alltags sehr vieler Frauen darstellten. Es handle sich dabei aber um sehr praktische Fragen. «Wir haben einen Dokumentarfilm gedreht mit dem Titel ‹Ein ganzer Ehemann, ein halber oder ein viertel›. Dabei ging es um das Thema Polygamie. Da ein muslimischer Mann bis zu vier Frauen heiraten darf, heisst das auch, dass man den Mann auf vier Frauen aufteilt.» Der Film betrachte das Thema aus der Sicht der Frauen, da doch jede Frau Anrecht auf einen ganzen Mann habe. «Wir machen aber auch Sendungen, wie Korruption das Leben der Frauen beeinflusst oder wie sie selbstständig für ihre Familie sorgen können.»

«Oral history» als Inspiration

Solche Beiträge führten allerdings immer wieder zu Konflikten mit konservativ-fundamentalistischen Gruppen, sagt Farraj. «Wenn wir etwa die Polygamie infrage stellen, sagen die Konservativen, das sei gegen islamisches Recht. Aber das ist uns egal. Wir wollen den Frauen zeigen, wie sie ihrerseits für ihre Rechte argumentieren können.» Deshalb bemüht sich TAM auch darum, ihre Filme nicht nur im Fernsehen, sondern vor allem bei öffentlichen Veranstaltungen zu zeigen. «Und wenn immer möglich organisieren wir dazu eine Diskussion.»

Eines der grössten Hindernisse für Farraj und ihre MitarbeiterInnen ist jedoch nicht der Widerstand von religiöser Seite. «Wir haben immer wieder Probleme, uns mit anderen auszutauschen oder zu treffen», sagt sie. Die Bewegungsfreiheit der palästinensischen Bevölkerung sei enorm eingeschränkt, und durch die Kontrollen an den Checkpoints würde eine ansonsten einstündige Reise bis zu vier Stunden dauern. Solche Einschränkungen hätten etwa zur Folge, dass viele Frauen nicht mehr aus dem Haus könnten, um zu studieren – weil es zu gefährlich sei oder zu viel Zeit in Anspruch nehme.

TAM hat deshalb in abgelegenen Gebieten verschiedene Frauenzentren aufgebaut. «Wir stellen dort Computer zur Verfügung und bilden die Frauen im Umgang damit aus. So können sie an Fernuniversitäten studieren.» Es sei wichtig, so viele Aspekte wie möglich parallel zu verfolgen: Aufbau von Infrastruktur, Ausbildung, Information über Rechte. «Nur so entsteht ein neues Denken. Nur so können die Frauen später auch alleine ihre Rechte einfordern, ihre Wünsche umsetzen und ein besseres Leben führen.» Farraj sieht die Aufgabe von TAM darin, den Frauen eine Stimme zu geben. Denn: «Wir wollen positive Geschichten zeigen. Geschichten von Frauen, die trotz grosser Hindernisse nicht aufgegeben haben und so anderen Frauen als Vorbild und Inspiration dienen können.»

Die Nakba in Bern

Die Ausstellung «Die Nakba» dokumentiert die Geschichte der Vertreibung von Hunderttausenden PalästinenserInnen im Jahr 1948.
Die Ausstellung läuft noch bis am 1. Dezember 2012. Im kulturellen Rahmenprogramm gibt es Theater, Kino, Musik, Referate und Diskussionen.
www.nakbabern.ch