«Miss Sara Sampson»: Keine Rührung, kein Aufruhr?

Nr. 46 –

Vor über 250 Jahren, als Gotthold Ephraim Lessings «Miss Sara Sampson» uraufgeführt wurde, flossen die Tränen. Das erste deutsche bürgerliche Trauerspiel wurde zum theatergeschichtlichen Ereignis. Und heute?

Das Trauerspiel als Pflichtübung: Sara Sampson (Franziska Wulf) mit einem der beiden Nachtwächter (Philippe Graber). Foto: Philipp Ottendörfer

Die Tendenz im zeitgenössischen Theater, Figuren in ihrer emotionalen und sozialen Wirklichkeit nicht ernst zu nehmen, ist unübersehbar. So derzeit auch im Zürcher Theater Neumarkt, wo sich die junge Regisseurin Laura Koerfer mit einem emotionalen Grossbrocken herumschlägt: Gotthold Ephraim Lessings «Miss Sara Sampson».

Ausgerechnet dieses Stück also, dessen Uraufführung 1755 wie ein emotionales Gewitter über die ZuschauerInnen hereinbrach! Dieses erste deutsche bürgerliche Trauerspiel, in dem sich Sara Sampson (Franziska Wulf), ein «Mädchen von schönen sittlichen Empfindungen», über alle Konventionen hinwegsetzt, um ihr «Herz nur um ein Herz» dem Mellefont (Jakob Leo Stark) zu geben – und sich so, bereits vor Stückbeginn, in eine Sackgasse manövriert. Da sind sie nun also untergetaucht in einem «elenden Wirtshaus», wo sie von all dem heimgesucht werden, was ein freies Ausleben ihrer Liebe unmöglich erscheinen lässt: Saras Vater, Mellefonts Exgeliebte (Vivien Bullert) mit ihrem Kind Arabella (Julia Sewing) – und Mellefont selbst mit seiner Bindungsangst.

Geräumt und eingeebnet

Aus dieser Konstellation – dem Vorhaben, sich mit solch gefühlsaufgeladenen Stoffen auseinanderzusetzen, und dem gleichzeitigen Hang, ebendiesen Gefühlen mehr oder weniger kunstvoll auszuweichen – entstehen Inszenierungen wie diese: Die eigentliche Tragödie, in der die Menschen mit sich und ihrer Umgebung ringen, schrumpft auf das Format eines Kinderspielplatzes. Die eigentlichen Reflexionen werden aus dem Drama extrahiert – und in einer Rahmenhandlung deponiert.

Vergleichbares sah man diesen Frühling schon bei anderer Gelegenheit im Neumarkt, in der «Romeo und Julia»-Inszenierung von Barbara Weber und Rafael Sanchez. Der Spielplatz wird geräumt von allem, was den Spielfluss stören könnte, allfällige Abgründe werden eingeebnet. Die Vorlage selbst wird zum Gebrauchsobjekt, das unter Einfluss hoch intellektueller Sekundärliteratur gekürzt, auseinandergeschnipselt und neu zusammengeklebt wird. Dazwischen, darüber, rundherum und manchmal auch mittendrin: Selbstentwickeltes, welches das Stück mit der Gegenwart konfrontieren soll.

Indem Koerfer aber die Gegenwart nicht aus der Zeitlosigkeit des eigentlichen Textes entfaltet, versetzt sie die Tragödie noch weiter in die Geschichte zurück. Womöglich erhoffte sie sich dadurch einen klareren Blick auf das Geschehen. Doch verliert sie es gerade dadurch aus den Augen. Und wir mit ihr: das Trauerspiel als Alibiübung.

Solche Distanznahme macht schon seit langem Schule, in Theaterakademien und auf Bühnen. Es offenbart sich darin ein tief liegendes Unverständnis gegenüber Monologen und Dialogen aus Zeiten, in denen zwischenmenschliche und insbesondere Liebesbeziehungen noch tiefer und direkter von patriarchalen Zwängen, feudalen Strukturen und religiösen Direktiven beherrscht und behindert wurden. Da wäre es doch brennend interessant herauszufinden, wo sich heutzutage, bei all der Säkularisierung, die gesellschaftlichen Diktate verstecken – und weiterhin selbst auch das Privateste bestimmen.

Nur keine Komplizen!

In der Inszenierung im Neumarkt erscheint Saras Verhalten, ihr radikales Einstehen für eine Beziehung um der Liebe willen und gegen die Konvention, altmodisch oder gar exotisch. Betont wird das durch ihre hysterische Darstellung. Die beiden Nachtwächter (Philippe Graber und Alexander Seibt), die Koerfer als erste Zuschauer aus unserer Zeit auf die Bühne stellt und gleichzeitig als Bedienstete der beiden Hauptfiguren agieren lässt, diktieren uns das Befremden über solche Aufgeregtheit. Warum nur diese Hilfskonstruktion, fragt man sich? Wo doch die Figuren, in all ihrer Befangenheit in den Geschlechterrollen ihrer Zeit, überaus modern und emanzipatorisch sind – zumal für diese Zeit im frühaufklärerischen 18. Jahrhundert.

Was wir vorgesetzt bekommen, sind also nicht die ernsthafte Darstellung der privaten Revolte einer jungen Frau und die sozialen Konsequenzen, die sie damit in Kauf nimmt, sondern die Unfähigkeit, Sara Sampson ernst zu nehmen. Bevor wir uns selbst hätten dazu positionieren können, hat sich dieses Befremden bereits schon in allgemeine Ironie verwandelt.

«Die Zuschauer haben drey und eine halbe Stunde zugehört, still gesessen, wie Statüen, und geweint», notierte Karl Wilhelm Ramler über die Uraufführung in Frankfurt an der Oder am 10. Juli 1755. Gestandene Männer, so wird berichtet, weinten hemmungslos drauflos. Das erste deutsche bürgerliche Trauerspiel vermochte auszulösen, wovon bis heute so mancheR DramatikerIn träumt: dem (noch) Unausgesprochenen, der individuellen Auflehnung und Verzweiflung unter real existierenden Umständen, eine Sprache und eine Handlung zu geben.

Bemerkenswert dazu ist auch ein Briefwechsel zwischen dem Schriftsteller Friedrich Nicolai und Lessing nach einer Aufführung in Berlin 1756. Nicolai gesteht darin, «dass ich bis an den Anfang des fünften Aufzugs öfters geweint habe, dass ich aber am Ende desselben, und bei der ganzen Scene mit der Sarah, vor starker Rührung nicht habe weinen können». Worauf Lessing in seinem Antwortbrief diesen Erregungszustand als «Beklemmung» bezeichnet, als höchste Steigerung der Mitleidsempfindung quasi.

Nun fragt sich, inwiefern «Rührung» überhaupt aufklärerisch sein kann. Und vor allem: inwieweit sie heute noch aufrührerisch sein könnte. Spätestens seit Bertolt Brechts Begriff der Entfremdung in seiner Theorie des epischen Theaters hat Rührung in fortschrittlichen Kreisen einen üblen Beigeschmack. Der Zuschauer, so die überwiegende Meinung unter kritisch disponierten Theaterleuten, soll nur ja nicht gerührt werden, sondern in einen Zustand versetzt, der ihn die eigene Situation analytisch betrachten und daraus eine Konsequenz ziehen lässt.

Es ist eine Ironie der Theatergeschichte, dass gerade Brechts Stücke so manche Tränen hervorgerufen haben, jene «sichtbaren Zeugnisse dramatischer Wirkung», wie Dieter Hildebrandt im Programmheft zitiert wird: «Die Tränen des Theaters, indem sie nicht mehr um das Schicksal von Medäen und Klytemnästren vergossen werden, gewinnen eine Spur von Komplizenschaft, in der Rührung angelegt ist: der Aufruhr der Gefühle, die die eigenen sein könnten.»

Genau darin läge die Herausforderung, Lessings «Miss Sara Sampson» heute auf die Bühne zu bringen: im Versuch, Komplizenschaft zu ermöglichen mit alltäglichen Menschen in scheinbar noch so anderen Zeiten und Umständen – und so die Ironie und den Zynismus zu durchbrechen, die sich in den Köpfen festgesetzt haben.

Alles nur Theatersport?

Es ist gewiss nicht so, dass Koerfer den zynischen Mainstream nicht erkannt hätte. In ihrer Rahmenhandlung spricht sie ihn wörtlich an. Nur eben: Statt wenigstens den Versuch zu unternehmen, ihn aufzubrechen, ist da gleich schon dieser Reflex, der so manche Inszenierung dieser Tage prägt – die Diagnose «Zynismus» wird direkt aus der zeitgenössischen Philosophie und Soziologie in die Programmhefte gepresst und anschliessend über die Bühne und ihre Figuren geschüttet. Nun waten sie durch den Schlamm vorweggenommener Analysen und strampeln sich mehr oder weniger komisch ab. Überflutet wird damit aber auch, was zwischen den Zeilen schlummern und zwischen den Figuren aufscheinen und gegenwärtig werden könnte – im Keim erstickt auch jede Gefühlsregung, ohne die das Stück (und damit auch die Reflexion darüber) überflüssig wird.

Wo aber keine Berührung stattfindet, kann auch nicht wirklich darüber sinniert werden. Wie soll ich mich derart unberührt mit der Frage beschäftigen, ob Rührung ein Ausdruck von Anteilnahme sein könnte, ein latent sozialer Akt quasi – oder doch eher nur ein Symptom des bequemen Konsums einer fremden Tragödie?

Lasst sie endlich aussprechen!, möchte man rufen, lasst dieser Sara doch bitte die Zeit, um einen Gedanken zu Ende zu führen. So gebt uns doch wenigstens einmal die Gelegenheit, um mitfühlen und mitdenken zu können.

Nichts da. Und so hecheln die DarstellerInnen in Koerfers Versuchsanordnung ihren Figuren aus dem 18. Jahrhundert theatersportlich hinterher.

Am Ende: Viel Applaus. Kein Aufruhr.

«Miss Sara Sampson» in: Zürich, Theater Neumarkt, Donnerstag, 15. November 2012, Mittwoch/Donnerstag, 11./12., Samstag/Sonntag, 14./15., Mittwoch, 18., und Freitag–Sonntag, 20.–22. Dezember 2012, 20 Uhr. www.theaterneumarkt.ch