Der Candrian-Bon-Clan: Die Dynastie vom Hauptbahnhof

Nr. 48 –

Er ist im Zürcher Hauptbahnhof allgegenwärtig, aber auch in St. Moritz und in Basel präsent: der Candrian-Clan mit seinem Gastroreich.

Das «Suvretta House», St. Moritz, um 1913: Anton und Maria Bon liessen es mittels Kapital des britischen Diamantenhändlers Charles Sydney Goldman bauen.

Wer im «Atrio» (früher «Arcade») im Zürcher Hauptbahnhof ein Bier trinkt, trinkt es bei Candrian. Wer im «Bona Dea» vegetarisch isst, isst bei Candrian, und wer in der Brasserie Federal eine währschafte Mahlzeit einnimmt, ebenso. Bleibt als Alternative das Sandwich am Kiosk. Und was steht auf dem Kassenbon? Candrian Catering. Es ist bewundernswert, wie die Candrians es fertiggebracht haben, dass ihnen die SBB lange Jahre auch die hinterste und letzte Ecke des wichtigsten Bahnhofs der Schweiz überlassen haben. Martin Candrian will dafür kämpfen, dass das möglichst so bleibt. «Wir wehren uns im Hauptbahnhof für jeden Quadratmeter Gastronomie», erklärte er im Mai 2011 gegenüber dem «Tages-Anzeiger». Aber seit 1990 ist das Monopol leicht geritzt: Im unterirdischen Ladengeschoss verkaufen als Pächter der SBB auch die Migros und weitere Imbisslokale Getränke und kleine Mahlzeiten.

Die Candrian-Bon-Dynastie ist im Hauptbahnhof seit bald neunzig Jahren präsent. Die drei Sitzungszimmer «Martin», «Primus» und «Rudolf» im «Au premier» stehen für drei Generationen. Claudio Bieri, Vorsitzender der Geschäftsleitung seit Ende 2011, residiert im historischen Büro, das einst der Herr belegte, der vor dem Bahnhof auf seinem Sockel steht: Alfred Escher. Und wie für Escher die Arbeiter im Tunnel buddelten, halten unter dem Bahnhof Candrians Beschäftigte, in der Mehrzahl Ausländerinnen und Ausländer, eine riesige Versorgungsmaschinerie in Gang. Der Aufwand für die Speisung der Massen ist riesig: Pro Tag werden in den Produktionsstätten der Candrian Catering 14 000  Einheiten Brot (davon 2000 Gipfeli) gebacken und 3500 Sandwiches in dreissig Variationen gefüllt. 15 000  Würste die Woche und drei Tonnen Eiscreme pro Jahr produziert das Unternehmen im Haus selbst. Der Jahresverbrauch an selbst geröstetem Kaffee, der roh an der Börse eingekauft wird, beträgt 35 Tonnen. Pro Jahr werden 24 Tonnen roher Lachs, 225 Tonnen Mehl, 160 Tonnen Fleisch und über 100 Tonnen Gemüse verarbeitet.

Von der Pension zum Parkhotel

Neben den vielen Lokalen im Hauptbahnhof – darunter drei «Burger King»-Filialen – gehören in Zürich und Umgebung auch die Brasserie Lipp in der Sternwarte, die Brasserie Schiller und die Goethe-Bar im NZZ-Gebäude, der «Vorbahnhof» und das Hotel Montana mit dem Bistrot Le Lyonnais im Kreis 5, ein «Imagine» im Sihlcity, der Gasthof Hirschen in Meilen und eine «Nordsee»-Filiale im Flughafen zu Martin Candrians Gastroimperium. Mit der Expansion über den Bahnhof hinaus will er die Abhängigkeit von einem einzigen Vermieter und Standort verringern. Getrennt hat sich Candrian kürzlich vom Weingeschäft (Vina Weine), das er an den Bierkonzern Heineken verkaufte mit der Begründung, man wolle sich wieder vermehrt auf die Gastgeberrolle als Kernkompetenz konzentrieren.

Gastgeberin ist die Familie seit Generationen. Angefangen hat alles zwischen Walensee und Chur. Nachdem Bernhard Simon, ein in St. Petersburg reich gewordener Glarner Architekt, 1869 in Bad Ragaz das Hotel Quellenhof eröffnet hatte, nahm er sich, nachdem der Gemeindepräsident und Sägereibesitzer Sebastian Bon verstorben war, bald einmal dessen Sohnes an. Simon liess Anton Bon auf seine Kosten im eigenen Hotel und in Italien, Frankreich und England zum Hotelier ausbilden. Dann heiratete Bon die Hotelgouvernante Maria Nigg und machte sich selbstständig, indem er im bündnerischen Splügen das Hotel Bodenhaus & Post pachtete. Als die Gotthardbahn den Verkehr über San Bernardino und Splügen einbrechen liess, kaufte Anton Bon das Hotel Rigi First und 1892 in Vitznau die Pension Pfyffer.

«Bon reiste mit dem Architekten Koller in Deutschland und England herum, studierte den Geschmack der damaligen Ruhr-Barone und englischen Lords und Herzöge und verwandelte danach 1902/03 die bescheidene Pension Pfyffer in das grosse Parkhotel Vitznau», beschreibt Lorenz Stucki («Das heimliche Imperium») Bons entscheidende Weichenstellung zum Spitzenhotelier für die oberste Schicht. 1912 eröffneten die Bons in St. Moritz – auf Land und mit Kapital des in Südafrika mit Diamanten reich gewordenen Briten Charles Sydney Goldmann – das «Suvretta House». Es war, dank des Einsatzes von 400 Männern, die von morgens bis abends im Akkord arbeiteten, im Eilzugtempo erstellt worden. So konnte das «Suvretta» noch zwei Jahre vom Tourismusboom profitieren, bevor der Erste Weltkrieg die Hotels schlagartig leerte. Anton Bon starb 1915. Während der älteste Sohn Karriere in Deutschland und England machte, wo die Bons sich ebenfalls an Hotels beteiligten, führte der zweite Sohn Hans unter tatkräftiger Mithilfe seiner Mutter bis 1950 das «Suvretta» «durch alle Auf und Ab der Zwischenkriegszeit und des Zweiten Weltkriegs bis in jene Jahre, da sich das Gutbürgerlich-Reiche wieder durchsetzte und die Formel der Eltern erneut triumphierte», wie Stucki schreibt. 1941 bis 1946 blieb das «Suvretta» geschlossen. Die Familie des Geldgebers Goldmann blieb bis Anfang der siebziger Jahre im Verwaltungsrat des Hotels vertreten, an dem Candrian heute die Mehrheit hält.

Von Bon zu Candrian

Anton und Marias dritten Sohn schliesslich, Primus Bon, zog es 1923 wieder ins Unterland. Er übernahm das Bahnhofbuffet in Zürich und wurde auf einem Feld tätig, wo bald einmal statt Luxus die schnelle Verpflegung der Massen angesagt war. Bon führte das Bahnhofbuffet bis 1955. Dann ging die Leitung auf seinen Schwiegersohn Rudolf Candrian über, der die Pacht bei der Neuausschreibung durch die SBB verteidigen konnte. Candrian hatte in die Familie Bon eingeheiratet, war selbst aber ebenfalls in einer Hoteliersfamilie in Glion und Flims aufgewachsen. Vor seinem Wechsel nach Zürich führte er mit seiner Frau Lili das Parkhotel in Vitznau – dort wurde Martin Candrian geboren – und das «Suvretta House». Nach dem Weggang Rudolfs führte sein älterer Bruder Albert Candrian, ein im Ausland und im Wallis (Seiler-Hotels, Zermatt) erprobter Hotelier, bis 1968 das «Suvretta». Auch Martin Candrian musste wieder um den Pachtvertrag mit den SBB kämpfen, bevor er 1979 34-jährig die Leitung des Bahnhofbuffets mit damals zehn verschiedenen Restaurants übernehmen konnte. Rund sechzig Bewerber hatten sich gemeldet, der Enkel von Primus Bon machte das Rennen.

2008 tat Martin Candrian den Schritt nach Basel, indem er dort das Restaurant Kunsthalle übernahm. 2010 kamen die Gastrobetriebe am Basler Hauptbahnhof hinzu. Und 2011 wechselte auch die Bierhalle zum Braunen Mutz, ein Traditionslokal am Barfüsserplatz, in Candrians Hände. Mittlerweile gehören in Basel bereits sieben Restaurants zur Gruppe.

Die fünfte Generation

«65 war keine Zielgrösse. Aber ich nahm mir vor, nicht mit 70, 80 oder 90 immer noch jeden Tag ins Büro zu gehen», erklärte der 65-jährige Martin Candrian gegenüber der «Bilanz», als er 2011 die operative Leitung seiner Unternehmensgruppe an Claudio Bieri abgab. 1999 hatte er das Imperium neu geordnet und die verschiedenen Einzelfirmen in der Candrian Catering zusammengefasst. In deren Geschäftsleitung ist heute die fünfte Generation mit am Ruder: Patrick Candrian ist verantwortlich für alle Betriebe im Zürcher HB, Reto Candrian für die restlichen Unternehmen. Tochter Tina, Inhaberin einer PR-Agentur, sitzt im Verwaltungsrat, wie auch Candrians Frau Marga. Wie die NZZ kürzlich meldete, soll der in der Finanzbranche ausgebildete Reto Candrian auch beim «Suvretta House», wo sein Vater Verwaltungsratspräsident ist, in dessen Fussstapfen treten und den anstehenden Aus- und Umbau des Hauses, der auf 300 Millionen Franken veranschlagt ist, in die Hand nehmen.

Seit 2004 sitzt Martin Candrian im Verwaltungsrat der Flughafen AG, wobei seine Wahl seinerzeit wegen möglicher Interessenkonflikte – Candrian ist auch am Flughafen in der Gastronomie tätig – nicht ganz geräuschlos über die Bühne ging. Er gehörte auch dem Verwaltungsrat der Credit Suisse und anschliessend ihrem Beirat an, bis dieser aufgelöst wurde. Eher kurz war Candrians Gastspiel beim Grand Hotel Dolder. Als der Devisenhändler Urs Schwarzenbach, mit dem er seit über dreissig Jahren befreundet ist, 2001 das «Dolder» übernahm, war auch Candrian mit von der Partie. «Diesen Deal habe ich eingefädelt», erklärte er einmal der «SonntagsZeitung». 2009 – das um- und ausgebaute «Dolder» entpuppte sich als Fass ohne Boden – schied er aus dem Verwaltungsrat aus mit der Begründung, sich auf eigene Projekte konzentrieren zu wollen. Neu zog Schwarzenbachs Sohn Guy ins Aufsichtsgremium ein. Vor Schwarzenbach hatten während Jahrzehnten die Altzürcher Familien Wehrli, Schweizer und Wirth das Nobelhotel besessen.

Noch nicht ganz geschafft

Obwohl Candrian beim «Dolder» und auch beim Hotel Sonne in Küsnacht wieder ausschied, ist er mit Schwarzenbach nach wie vor verbandelt: Schwarzenbach, auch Besitzer der Air Engiadina und der Engadin Airport AG (Flugplatz Samedan), hatte dem Freund finanziell unter die Arme gegriffen, als es galt, den von einem Teil der Familienaktionäre angestrebten Verkauf des «Suvretta House» zu verhindern und die Anlage zu erneuern. Schwarzenbach ist am Hotel beteiligt und sitzt im «Suvretta»-Verwaltungsrat. Diesem gehört seit 1996 auch der in letzter Zeit glücklose Moritz Suter (Crossair, Hello, «Basler Zeitung») an. Während das Vermögen von Schwarzenbach von der «Bilanz» auf 1,25 Mrd. Franken geschätzt wird, haben es die Candrians bisher noch nicht unter die 300 Reichsten des Wirtschaftsmagazins geschafft, wozu es 2011 ein Vermögen von 150 Millionen Franken brauchte. Das ist auch ein Hinweis darauf, dass mit Devisenspekulationen Geld leichter zu verdienen ist als mit der arbeitsintensiven Gastronomie.

Candrians Gastroimperium

Im Jahr 2011 konnte die Candrian Catering mit 24 Restaurants, 14 Bars, 4 Cafés, 13 Take-aways, 1 Catering-Service («vor allem für Anlässe ab 50 bis zu 1000 Gästen») und 2 Hotels («Montana», «Hirschen») einen Jahresumsatz von 118 Millionen Franken netto erzielen. Erarbeitet wurde dieser Umsatz von 1300 Beschäftigten, von denen 760 voll und 540 in Teilzeit angestellt waren.

Candrian Catering gilt hinter Bindella als die Nummer zwei unter den familiengeführten Gastrogruppen der Schweiz.