Der Kampf um die Tankstellen: Auf eigene Gefahr

Nr. 50 –

Frischbackbrot, Überfälle, getarnte KundInnen: An einer Ausfallstrasse von St. Gallen mit sieben Tankstellenläden erzählen die Angestellten von ihrem Arbeitsalltag. Und jetzt will das Parlament die Ladenschlussgesetze für Tankstellenshops lockern.

Die Grossverteiler wetteifern um die besten Standorte: Noch liegt Coop Pronto knapp vor Migrolino.

Aus den «News» der St. Galler Kantonspolizei:

20. Februar 2012: Wittenbach: Raub auf Tankstellenshops. Die Polizei veröffentlicht Täterfotos. «Wer kann Angaben zum akzentfrei, hochdeutsch sprechenden, 20-  bis 27-jährigen, korpulenten, 195–200 cm grossen Mann machen, welcher zum Tatzeitpunkt dunkel gekleidet war und weisse Nike-Turnschuhe trug?»

5. Oktober 2012: St. Gallen: Bewaffneter Raub auf Tankstelle. «Der maskierte Räuber betrat die Tankstelle und attackierte den 20-jährigen Angestellten, so dass dieser zu Boden fiel. Unter Waffengewalt musste sich das Opfer erheben und dem Täter die Tageseinnahmen aushändigen. Das Geld wurde in einem mitgeführten Plastiksack verstaut. Der unbekannte Mann verliess anschliessend den Tankstellenshop und flüchtete zu Fuss in allgemeine Richtung Wittenbach.»

18. November 2012: Wittenbach: Verkäuferin mit Waffe bedroht. «Der unbekannte Täter betrat gegen 21.15 Uhr mit gezogener Faustfeuerwaffe den Tankstellen-Shop und bedrohte die Verkäuferin mit der Waffe. Er forderte die Verkäuferin auf, das Bargeld in eine Plastiktasche zu stecken und griff anschliessend selber in die Kasse. Anschliessend flüchtete der Unbekannte zu Fuss Richtung St. Gallen. Die Verkäuferin blieb unverletzt.»

«Wildwest in St. Gallen», titelte der «Blick» nach einem der Überfälle. Die Tankstellen, an denen sich die Überfälle ereigneten, liegen alle an derselben Strasse. Sie heisst zuerst Romanshorner-, dann St. Gallerstrasse, schliesslich Langgasse und führt durch den Vorort Wittenbach nach St. Gallen. Im Schnitt verkehren hier täglich rund 17 000 Fahrzeuge, die Strasse gehört zu den fünf am meisten befahrenen im Kanton, von den Autobahnen abgesehen. Coop, Agrola, Tank-Shop, Migrolino, BP, nochmals Migrolino und in der St. Galler Innenstadt der 24h-Shop. Sieben Tankstellen mit integrierten Läden stehen entlang der fünfeinhalb Kilometer Strasse.

Willkommen in der Agglomeration: Eine Kinderbande, angeführt von Liridon, wird aufkreuzen, Pouletverkäufer Sarcevic eine Runde Bier ausgeben und Kantonspolizist Schläpfer zu einer Kontrolle schreiten. Willkommen in meiner Heimat auch, ich bin in Wittenbach aufgewachsen.

Die Frische riechen

Praktikant Darko Mijalovic macht Pause vor dem Coop Pronto. «Schnell und frisch, das ist unser Motto, nicht?», ruft er in den Shop hinein. «Schnell und frisch, genau», bestätigt Verkäufer Tacettin Bulut aus dem Innern. «Das Brot ist das Wichtigste», erklärt Mijalovic und führt hinein zum Ofen gleich neben der Kasse. «Der Kunde muss es immer riechen.» Kollege Bulut zieht drei Weissbrote aus dem Ofen und packt sie ein. «Am Dienstag und am Donnerstag treffen die Brote tiefgekühlt ein. Wir überlegen uns, wie viele wir an einem Tag brauchen. Dann backen wir sie gestaffelt auf, damit sie möglichst warm sind.»

Mijalovic und Bulut sind beide sehr jung. Mijalovic heuerte nach der Realschule hier an, weil er keine Lehrstelle gefunden hatte, zu einem Praktikumslohn. Er hofft, dass sein Praktikum nach sechs Monaten verlängert wird. Bulut ist 21, er machte eine Lehre als Verkäufer, nun bildet er sich nebenher im Marketing weiter. Die Höhe seines Lohns will er lieber nicht preisgeben. Dafür empfehlen die beiden noch ein paar Produkte aus dem Sortiment: Der Wodka sei billiger, seit man von «Gorbatschow» auf «Jelzin» umgestellt habe. Und übrigens: «Wer will, kann das Brot vorbestellen.» Ein Pfund kostet 2.90 Franken.

200 Meter weiter, auf der anderen Strassenseite, liegt die Tankstelle der Agrola. Hier darf die Verkäuferin auf Weisung von oben gar keine Auskünfte geben.

Gemeindepräsident Fredy Widmer von der CVP beschreibt Wittenbach als «typische Agglomerationsgemeinde mit attraktiven Verkehrsverbindungen». Er lobt das «aktive Vereinsleben», für einen Vorort mit rund 10 000 EinwohnerInnen nicht selbstverständlich. «Die Tankstellenshops haben die Funktion der Tante-Emma-Läden übernommen.» Elisabeth Beéry, die SP-Bauvorsteherin von St. Gallen, berichtet, dass vor fünf Jahren an jeder Ausfallstrasse der Stadt die Tankstellenshops «wie Pilze aus dem Boden schossen. Nun scheint der Boom erschöpft.»

Die Zahl der Tankstellen in der Schweiz nimmt leicht ab, wegen des Wandels in der Mobilität und weniger Benzin verbrauchender Motoren. Zugenommen hat gemäss Erdölvereinigung aber die Zahl der Tankstellenshops: In den letzten fünfzehn Jahren von 1073 auf 1346 – eine Steigerung um 25 Prozent. Noch markanter war die Veränderung bei der Grösse der Shops: Gab es 1997 nur 375 Shops, die grösser als 50 Quadratmeter waren, so wurden Ende 2011 insgesamt 1002 solcher Läden gezählt. Eine Steigerung um mehr als 150 Prozent.

Weil die Treibstofflieferanten nicht immer deckungsgleich mit den BetreiberInnen der Verkaufsshops sind, ist auch nicht auf den ersten Blick erkennbar, dass sich hier in den letzten Jahren ein veritabler Kampf der Grossverteiler abspielt. Es geht um die Vorherrschaft auf dem sogenannten Convenience-Markt. Unter dem Begriff werden sowohl Shops an Tankstellen oder Bahnhöfen verstanden, die eine schnelle Einkaufsmöglichkeit bieten, wie auch Lebensmittel selbst, die rasch zubereitet sind.

Coop verfügt unter der Marke Coop Pronto derzeit über 250 Convenience-Shops, davon 195 an Tankstellen. Die Migros und die Valora traten mit dem Joint Venture Avec gegen den Marktführer an. Doch die Strategie scheiterte, 2008 kam es zur Trennung: Die Migros gründete die Tochtergesellschaft Migrolino und kommt heute auf 195 Läden, davon 149 an Tankstellen. Dieses Jahr konnte sie sich dank eines Deals mit der staatlichen aserbaidschanischen Ölgesellschaft Socar neue Standorte sichern. Die Valora, der auch die Kiosk AG und neu der Brezelkönig gehören, führt die Marke Avec weiter und kommt auf insgesamt 104 Shops. An den Tankstellen konnte sie dank eines Deals mit dem libyschen Ölkonzern Tamoil zulegen. Das Geschäft von Migrolino mit Socar blieb wegen der Menschenrechtsverletzungen in Aserbaidschan nicht ohne Kritik, ebenso jenes der Valora mit Tamoil, das noch zur Herrschaftszeit des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi abgeschlossen wurde. Auch Spar ging dieses Jahr in die Offensive: Der Discounter übernahm von der Contashop 45 Shops an Tankstellen von BP, Avia und weiteren. Contashop gehörte dem Tabakwarenkonzern Oettinger Davidoff. Der Wechsel von Rauchwaren zu Lebensmitteln steht sinnbildlich für die Veränderung an den Verkaufsstellen.

Kurt Felix war Stammkunde

Es schneit an diesem Freitagnachmittag in Wittenbach, und auch die Architektur lässt einen kalt: Wittenbach war nie ein besonders schöner Ort und ist in den letzten Jahren nicht schöner geworden. Die Wiesen und Hügel, die in meiner Kindheit schon zur Hälfte verbaut waren, sind es jetzt vollständig. Planlos stehen Mietblöcke und Eigenheimträume in der Landschaft. Ein Kreisel kommt in Sicht. Verkehrstechnisch bräuchte es ihn nicht. Immerhin in der Mitte etwas Kunst. Drei Kreise in den Farben des Gemeindewappens: Rot, Weiss, Blau.

Andererseits mochte ich diese Agglomelancholie auch immer. Wenn ich heute hier durchgehe, habe ich immer noch den Sound aus den Neunzigern in den Ohren. Wir trafen uns in den Häusern, in denen die Eltern weg waren, oder am Waldrand und taten, was jede Jugend tut: auf eine grosse Zeit warten. Und einer, der Töffli fahren konnte, brachte den nächsten Ten-Pack Bier aus der Tankstelle.

Eine Verkäuferin eines Tankstellenshops entlang der Strasse ist bereit, ausführlich über ihre Arbeitsbedingungen zu erzählen, wenn sie anonym bleiben kann: «Die erste Schicht dauert von morgens um 6 Uhr bis nachmittags um 14.30 Uhr. Das heisst, wer den Shop öffnet, muss schon um 5.30 Uhr da sein, die Tanksäulen einschalten, Brot aufbacken, die Zeitungen holen. Wir arbeiten immer alleine. Die zweite Schicht dauert von 14 Uhr bis 22.30 Uhr, sie endet mit Auffüllen und Putzen. Sechs Personen sind hier angestellt. Ich arbeite hundert Prozent und verdiene brutto 4200 Franken, netto 3600. Wer Teilzeit arbeitet, ist im Stundenlohn beschäftigt.

Die Hälfte unserer Kundschaft kommt, um zu tanken. Die andere kommt aus der Nachbarschaft. Viele kaufen Alkohol, obwohl er hier viel teurer ist. Manche bringen sogar Tragtaschen mit. Das Geschäft machen wir klar mit dem Shop, vom Benzinverkauf bleiben nur ein paar Rappen pro Liter.

Wir haben Stammkunden, die jeden Tag kommen, zu einem Kaffee in der Pause. Ich arbeite schon einige Jahre hier, da lernt man auch die privaten Geschichten kennen. Ein Stammkunde war Kurt Felix, der kam jeden Sonntag mit Paola vorbei. Ganz nette Leute, die beiden! An Weihnachten haben sie uns immer einen Panettone gebracht.

Wir waren auch schon von Überfällen betroffen. Mich hats zum Glück noch nie erwischt. Wichtig ist einfach, nicht den Helden spielen zu wollen. Das Geld hinlegen und fertig. Speziell häufig kommen Überfälle in der Weihnachtszeit vor, wenn die Leute Geld brauchen oder mit sich nicht klarkommen.

Am meisten belastet mich die Verantwortung, dass alles stimmt im Laden. Die Kasse, die Sauberkeit, die Bestellungen. Es kann immer zu Lebensmittelkontrollen kommen oder zu Alkohol-Testkäufen. Was mir am meisten fehlt, ist die Wertschätzung. Dass jemand sagt: Super gemacht! Unsere Gesellschaft geht viel zu geizig mit dem Lob um.»

St. Gallen gehört neben Luzern und Fribourg zu den einzigen Kantonen, wo die Tankstellenangestellten einen Gesamtarbeitsvertrag haben. Er garantiert ihnen einen Mindestlohn – wenn auch auf tiefem Niveau – und einen 13. Monatslohn.

Nach einer Kreuzung folgt an der Strasse Richtung St. Gallen der Tank-Shop. Früher betrieb ihn Coop, bis er zu klein wurde. Die BesitzerInnen der Tankstelle machen auf eigene Faust weiter. Verkäuferin Heidi Sturzenegger findet, dass die Tankstellenshops soziale Treffpunkte sind. «Viele Leute kommen aus den Wohnblöcken rundherum.» Hier erlebe man immer etwas: Letzthin sei zum Beispiel ein Millionär im roten Ferrari vorgefahren und habe alle Kinder eingeladen, sich etwas zu kaufen. «Das war gar kein Millionär!», schallt es in diesem Moment von der Kühltruhe.

«Das war kein Millionär!»: Denis, Liridon und Arlind (hintere Reihe von links) kennen die Wahrheit.

Eine Kinderbande, alle im Skianzug, hat den Laden betreten, um sich Getränke zu kaufen. «Es stand später im ‹20 minuten›: Er hatte das Geld geklaut», weiss Liridon. Seine Kollegen Arlind und Denis nicken bestätigend. Da hatten sie natürlich längst alle Chipspackungen verdrückt und ihren Eistee getrunken.

Die meisten Shops sind zwar mit den Logos der Grossverteiler angeschrieben – tatsächlich werden sie aber im Franchisesystem geführt. Dem Franchisenehmer wird ein Konzept, das Know-how sowie ein schlüsselfertiger Laden zur Verfügung gestellt. Der Franchisenehmer wiederum muss eine Gebühr für die Nutzung bezahlen und das Personal auf eigene Rechnung anstellen. Wörtlich heisst es in der Ausschreibung von Migrolino: «Der Franchisenehmer übt seine Tätigkeit als selbstständiges und unabhängiges Unternehmen im eigenen Namen, auf eigene Rechnung und auf eigene Gefahr aus.»

Das unternehmerische Risiko wird auf den Franchisenehmer abgewälzt. Markus Laenzliger, Unternehmensleiter von Migrolino, sagt dazu: «Es gibt immer wieder Franchisepartner, die sehr erfolgreich sind und beabsichtigen, weitere Shops zu betreiben. Es gibt aber auch immer wieder Partner, die freiwillig den Vertrag kündigen. Im Jahr 2012 sind einige zurückgetreten.» Die Sendung «Kassensturz» prangerte vor zwei Jahren «Hungerlöhne» bei einem Migrolino-Franchisenehmer an. «Das widerspricht unserer Grundhaltung absolut», entgegnet Laenzliger. Es habe sich um einen Einzelfall gehandelt. Im September dieses Jahres wurde ein Verband zur Interessenvertretung der Tankstellenshop-BetreiberInnen gegründet. Dieser habe einen landesweiten Gesamtarbeitsvertrag für alle ShopmitarbeiterInnen zum Ziel. «Wir unterstützen diese Bestrebung», sagt der Migrolino-Chef.

Im Übrigen wolle man laufend weiter expandieren – der grösste Konkurrent sei «ganz klar Coop Pronto». Die Migros sei traditionell stark an den Bahnhöfen. «Die Expansion bei den Tankstellen erfolgte mit Verzögerung.»

Der Flächenbrand

Einer der Franchisenehmer entlang der Strasse berichtet, auch er möchte lieber anonym bleiben: «Es ist mir ehrlich gesagt lieber, dass ich selbstständig bin und nicht angestellt als Filialleiter von Coop oder Migros. Aber natürlich, das Kabarett hat am Schluss immer der Shopbesitzer. Wenn ich nur eine Filiale leiten würde, hätte ich sicher weniger Tänze mit dem Personal, weil der Grossverteiler bei der Rekrutierung helfen könnte.

Ich finde es schon recht, dass es einen Gesamtarbeitsvertrag gibt. Es hat immer schwarze Schafe. Aber natürlich sind die Kosten höher. Gemäss GAV bezahlen wir einen Lohn von 3700 Franken an aufwärts. Ich selbst habe in den letzten eineinhalb Jahren praktisch keinen Gewinn erzielt. Die Einnahmen aus dem Benzinverkauf gingen rasant zurück.

Ende Jahr liege ich gegenüber dem Budget 250 000 Liter im Rückstand. Pro Liter Benzin mache ich zwei bis drei Rappen Gewinn. Das Problem ist, dass die grenznahen Tankstellen wegen dem Eurokurs ihren Preis drücken. Das hat sich ausgeweitet, wir sprechen von einem Flächenbrand. In Egnach am Bodensee liegt der Preis für einen Liter Bleifrei schon bei 1.71 Franken, bei uns ist er noch auf 1.73 Franken. Was viele nicht wissen: Die Benzinpreise werden von den Ölgesellschaften lokal bestimmt.»

«Siebzig bis achtzig Poulets pro Tag » : Grillmeister Marko Sarcevic dockt an Tankstellen an.

Neben der Migrolino-Tankstelle leuchtet ein Grillstand in die Dunkelheit. Auf dem Dach ist ein halbes Poulet aus Plastik befestigt. Im Drehofen brät Grillmeister Marko Sarcevic richtige Hühner. Da stehen wir nun im Schnee und essen das fettige Fleisch. Sarcovic spendiert eine Runde Bier und erzählt von seinem Leben an den Ostschweizer Strassen. «Jeden Tag wechsle ich den Standort.» Er ist gewissermassen ein Mitnutzer von Tankstellen, zweimal die Woche dockt er an Shops an. «Hier verkaufe ich siebzig bis achtzig Poulets pro Tag.» Er sei selbstständig, arbeite auf eigene Rechnung. «Da kann man abends keine Party machen.» Und die Poulets, kann er die selbst noch essen? «Aber klar», sagt Sarcevic, zwackt mit der Zange das beste Stück ab, das Hinterteil, und gibt es uns mit auf den Weg.

Unter «Raststätten-Tarnung»

Die Convenience-Branche erzielt einen jährlichen Umsatz von rund fünf Milliarden Franken, das sind bereits mehr als zehn Prozent des gesamten Lebensmittelhandels. Im Herbst treffen sich die BranchenvertreterInnen jeweils zu den «Trendtagen Convenience». Im Jahr 2009 ging es um das «Verhalten an Tankstellen in der Schweiz». Im Bericht heisst es, dass die Kundschaft zwar durchaus aus Leuten bestehe, die es wirklich eilig haben, dass sich aber auch viele bloss eine «Aura des Vielbeschäftigtseins» geben wollten. Sie legten sich eine «Raststätten-Tarnung» an. Diesen Personen biete der Einkauf in einem Convenience-Shop eine Möglichkeit, ihre «unordentliche Lebensweise hinter dem Aufsteiger-Image zu verbergen». Ein Mehrpreis für die Produkte von zwanzig bis fünfzig Prozent sei gerechtfertigt. «Dieser Mehrpreis wird von den Tarnern bereitwilligst bezahlt.»

Das Pfund Brot kostet in der Coop-Pronto-Tankstelle 2.90 Franken, in einer gewöhnlichen Filiale nur 1.10 Franken.

An der letztjährigen Tagung wurde auf den Trend des «Gender-Food» hingewiesen, eine «spitzere Zuschneidung von Produkten auf die beiden Geschlechter». Bei Fertigprodukten lohne es sich angeblich, für Männer Vitamin E und Zink beizugeben: Das wirke als Potenzmittel. Frauen würde Folsäure guttun, es unterstütze die Schlüsselfunktionen des Nervensystems.

An zwei Nachtclubs vorbei führt die Strasse in die Stadt. Bei Tag würde man hier zum Bodensee sehen. Auf einer Baustelle wird ein Businesshotel hochgezogen. Wir haben noch immer die Bierflaschen vom Grillwagen in der Hand, als aus dem Halbschatten unvermittelt ein Polizist tritt. Es habe drei Anrufe bei der Polizei gegeben, aus Shops und der Nachbarschaft, wegen den Fotos und unseren Fragen. «Die Leute sind wachsam nach den Überfällen.» Kantonspolizist Schläpfer notiert die Namen. «Wenn Sie das nächste Mal eine solche Aktion machen, rufen Sie vorgängig auf dem Polizeiposten an. Das ist in ländlichen Gegenden besser.»

Näheres zu den Überfällen will Schläpfer nicht erzählen und verweist an die Pressestelle der Kantonspolizei. «Die Shops sind immer wieder das Ziel von Überfällen, weil sie länger offen haben», beobachtet Mediensprecher Hans Peter Eugster. «Es handelt sich dabei meist um Einzeltäter.» Also um Beschaffungskriminalität und nicht um bandenmässige Überfälle? «Meist brauchen die Täter einfach Bargeld.» Aggloräuber an der Ausfallstrasse. «Dank den Beschreibungen der Verkäufer können wir die Täter immer wieder ermitteln.» Eugster rät den ShopbetreiberInnen, das Geld unregelmässig abzuschöpfen.

Am ersten Mittwoch im Dezember stimmt der Nationalrat einer parlamentarischen Initiative zur «Liberalisierung der Öffnungszeiten von Tankstellenshops» zu. Der Genfer FDP-Wirtschaftsanwalt Christian Lüscher hat sie zur Änderung des Arbeitsgesetzes eingereicht: Künftig sollen Autobahnraststätten und Tankstellenshops an Hauptstrassen ihr Personal rund um die Uhr und am Sonntag beschäftigen dürfen. Der Ständerat hat die Vorlage etwas abgeschwächt: Nur Tankstellen an Hauptverkehrsstrassen «mit starkem Reiseverkehr» sollen profitieren.

Christian Lüscher sitzt vor der Debatte in der Wandelhalle, solariumgebräunt wie immer. «Aber nein!», ruft er. «Meine Initiative fordert keine Nachtarbeit. Sie richtet sich einzig gegen die Bürokratie. Tankstellen mit einem Bistro können jetzt schon über die Nacht offen halten und haben auch schon Personal beschäftigt. Aber sie müssen die Regale im Shop abdecken. Meine Initiative dreht sich nur um diese kleine Frage.» Gemäss Lüscher sind höchstens dreissig Tankstellen betroffen.

Im Parlament sind zwei weitere Motionen hängig, die auf Ladenschlusszeiten zielen. Der Tessiner CVP-Ständerat Filippo Lombardi fordert, dass DetaillistInnen im ganzen Land werktags bis um 20 Uhr und samstags bis um 19 Uhr offen halten dürfen. Sein Kollege Fabio Abate von der CVP will eine Lockerung der Sonntagsarbeit in Tourismusregionen.

«Meine Initiative ist kein Anfang!», sagt Lüscher. «Jede Initiative muss für sich betrachtet werden.» Wird er sich deshalb gegen die Vorstösse von Lombardi oder Abate einsetzen? «Im Gegenteil, ich bin für eine Liberalisierung der Öffnungszeiten.»

Dass die Erdölvereinigung oder die GrossverteilerInnen die Initiative für ihn formuliert hätten, bestreitet Lüscher allerdings. «Dahinter steht die IG Freiheit, bei der ich im Vorstand mitarbeite.»

Ein Gegenspieler von Lüscher ist der Berner SP-Nationalrat Corrado Pardini: «Die Bürgerlichen haben ein Dauersperrfeuer errichtet bei den Ladenöffnungszeiten, und das gegen den Volkswillen. Die Bevölkerung hat immer wieder Nein gesagt zu einer Ausdehnung, zuletzt im Kanton Zürich.» Pardini setzt zu einer Ansprache an: «Der Mensch und sein Umfeld werden zunehmend ökonomisiert. Soziale Bindungen, die Partnerschaft oder das Vereinsleben, werden aufgelöst in einer 24-Stunden-Gesellschaft. Die Bevölkerung will das nicht.»

Die Gewerkschaften, die linken Parteien und die Kirchen, die sogenannte Sonntagsallianz, werden das Referendum gegen die Tankstelleninitiative ergreifen. Gewerkschaftschef Paul Rechsteiner rechnet sich gute Chancen aus: «Diese Vorlage ist die Speerspitze der Liberalisierungen. Doch sie greift bei den Tankstellen am dümmstmöglichen Ort an: Auch das Gewerbe profitiert nicht davon, die ökologischen Folgen durch den Mehrverkehr sind beträchtlich und die Arbeitsverhältnisse der Verkäuferinnen bereits prekär.»

«Offen halten für paar Hirnis?»

Die bereits zitierte Verkäuferin an der Tankstellenstrasse zur Verlängerung der Ladenöffnungszeiten: «Nein, ja nicht! Irgendwo hört es auf. Nur wegen ein paar Hirnis, die vergessen einzukaufen, bin ich nicht bereit, in der Nacht zu arbeiten. Es läuft ja jetzt schon nichts mehr ab 21 Uhr. Die Leute haben nicht mehr Geld zum Ausgeben, nur wenn die Läden länger offen sind. Wir haben auch im Shop darüber diskutiert: Es wäre eine Katastrophe. Kollegen von mir müssen in der Nacht arbeiten, bei der Migros oder im Casino: Es schlägt auf ihre Gesundheit.»

Der erwähnte Franchisenehmer meint: «Die armen Cheiben sind die, die arbeiten müssen, damit ein paar wenige einkaufen können. Dass Leute freiwillig in der Nacht arbeiten, glaube ich nicht. Viele müssen, weil sie sonst nichts anderes finden oder vom Arbeitsamt geschickt werden. Und dann noch die Gefahr der Überfälle.

Das mit dem ‹starken Reiseverkehr› ist doch ein Gummiparagraf! Wer sagt, was darunter zu verstehen ist? Wir haben hier auch starken Reiseverkehr, von Konstanz her. Ich komme oft in der Nacht an der Tankstelle vorbei, da hat es kaum mehr Verkehr. Wenn ich auch noch in der Nacht Personal anstellen muss, rentiert der Laden nicht mehr.»

Die Credit Suisse hat sich 2009 in einer Marktforschungsstudie mit dem Convenience-Geschäft auseinandergesetzt. Die Schnellläden in der Schweiz haben sich an den Bahnhöfen durchgesetzt, weil dort gemäss dem Eisenbahngesetz die kommunalen und kantonalen Ladenschlussgesetze nicht gelten. Beschleunigt wurde der Boom der Fertigprodukte durch die Zunahme der Ein- und Zweipersonenhaushalte. Zu den Öffnungszeiten heisst es bezüglich Tankstellenshops: «Eine gewisse langfristige Gefahr könnten interessanterweise weitere Liberalisierungen darstellen. Besonders die Tankstellen- und Bahnhofsläden leben heute letztlich davon, dass sie ausserhalb der gesetzlichen Ladenöffnungszeiten ein Quasimonopol haben. Tankstellenläden an eher frequenzschwachen Verkehrslagen würden darunter leiden.»

Das Volkswirtschaftsdepartement des Kantons St. Gallen lässt ausrichten, dass die Tankstellen im Kanton nicht von der Lockerung des Arbeitsgesetzes durch Christian Lüscher profitieren könnten, weil das kantonale Ladenschlussgesetz weiterhin nur eine Öffnung bis um 22 Uhr zulasse.

Unterwegs in die Innenstadt geht es vorbei an Thaibeizen und einem Laden für Paintballgewehre. Auch in der BP-Tankstelle und im Migrolino ist man zurückhaltend mit Auskünften: «Stosszeit!», heisst es abweisend. Die Türen öffnen sich jetzt, nach 19 Uhr, tatsächlich im Minutentakt.

Im 24h-Shop riecht es nicht mehr nach frischem Brot, sondern nach Fleisch. Das Bistro darf hier rund um die Uhr offen halten, die Tischnachbarn verzehren gerade Spareribs. Das Bistro ist abgetrennt vom Laden. Den grössten Teil des Bistros bildet wiederum ein abgetrenntes Fumoir. Für das WC muss der Schlüssel an der Kasse geholt werden. Gewiss wäre es praktisch, all diese Trennwände aufzuheben. Nur bleibt der Verdacht, dass gerade die Liberalisierungen und Flexibilisierungen in diese klaustrophobische Enge geführt haben. Wir bestellen ein letztes Bier.

Das rät der Arzt: Nachtrag vom 10. Januar 2013

Falls Sie denken, diese Mitteilung beantworte die Frage, ob die Frischbackzöpfe und der ganze Convenience-Food von den Tankstellen dick machen: Ertappt! Dann denken Sie nämlich nur an sich. Genau wie die IdeologInnen der IG Freiheit, die durchsetzen möchten, dass die Tankstellenshops an Hauptverkehrsstrassen über Nacht und am Sonntag offen halten.

Diese Woche hat die Sonntagsallianz, bestehend aus Gewerkschaften, Kirchen und linken Parteien, gegen diese Liberalisierung der Öffnungszeiten das Referendum ergriffen. An der Pressekonferenz erläuterte Arbeitsmediziner Klaus Stadtmüller, was das Shopping für die VerkäuferInnen bedeutet, die rund um die Uhr in der Tankstelle stehen müssten: Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Magenbeschwerden, Nervosität. «Der Mensch steht sozusagen neben sich», meinte Stadtmüller. «Deswegen ist die einheitliche Haltung der Arbeitsmediziner zu Nachtarbeit: So wenig wie möglich, nur so viel wie nötig.» Der Luxus der Einkaufsmöglichkeit rund um die Uhr rechtfertige Nachtarbeit nicht.


Unterschriftenbogen finden Sie auf:
 www.sonntagsallianz.ch