Florian Illies: «1913»: Trakl ist high, und Rilke hat grad Schnupfen

Nr. 51 –

Florian Illies’ Montage über 1913: ein Streifzug durch ein Jahr voller kultureller Aufbrüche und Erschöpfungen – kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Ganz am Ende, am letzten Tag des Jahres 1913, spielen sie in Arthur Schnitzlers Abendgesellschaft Roulette. Wenn dann die letzten Sätze verklungen sind und man aufblickt von diesem Buch, das im Flug vorüberging, setzt sich vor dem inneren Auge eine kulturelle (und in Grenzen auch ökonomische) Weltkarte zusammen. Feine Leuchtspuren all der Bewegungen, denen man einige Stunden gefolgt ist, verdichten sich in drei Städten: Zwischen Paris, Wien und Berlin hat sich ein dichtes Netz entsponnen, es sind die Knotenpunkte der europäischen Kultur. Dazwischen liegt blässlich München. Über den Atlantik schaut ein bisschen New York. Und an Nebenkriegsschauplätzen machen die Figuren des Jahres Urlaub: Emil Nolde ist in der Südsee unterwegs, Ernst Jünger hat es zu Weihnachten aus Afrika und der Fremdenlegion zurück geschafft. Und James Joyce unterrichtet Englisch in Triest.

Florian Illies ist in seinem Mosaik «1913» nicht der freien Zappingmethode von Hans Ulrich Gumbrechts Begegnungen mit den Alltagsphänomenen in «1926» gefolgt. Vielmehr reist er mit der kulturellen Oberschicht durch das Jahr – manchmal auch mit der Aristokratie und eher selten mit dem Wirtschaftsleben. Streng nach Monaten gegliedert und mit Gespür für das Banale, ordnet Illies die kulturellen Verschiebungen, Neuerfindungen und Luftblasen.

Allgemeines Nervenflackern

Viel ist passiert in jenem Jahr, fleissig wurde geschrieben: Robert Musil beliefert von Wien aus gleich mehrere Feuilletons auf einmal, Marcel Proust veröffentlicht «Unterwegs zu Swann», Heinrich Mann arbeitet am «Untertanen», derweil sein Bruder Thomas am Schreiben verzweifelt und Rainer Maria Rilke an einem Schnupfen laboriert. Die späten Ausläufer der Romantik hallen noch durch die Lyrik, Hugo von Hofmannsthal dichtet etwas fernab von Illies, Georg Trakl scheint häufig high zu sein. Mit Virginia Woolf tritt sogar eine Frau in das literarische Leben. Überhaupt treten Frauen in das Leben der Männer und wieder heraus: Die Beziehungen zwischen Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler, vor allem aber zwischen Oskar Kokoschka und Alma Mahler sind Episoden, die neu zu besichtigen eine Freude ist. Franz Kafkas Briefe an Felice Bauer sind der neurotisch-scheiternde Gegenpol.

Und auch gemalt wird viel: Die Gruppe «Die Brücke» zieht nach Berlin und zerschellt an Intrigen und der Grossstadt; Kasimir Malewitsch schafft spät im Jahr mit dem schwarzen Viereck den einen «Nullpunkt der modernen Kunst». Marcel Duchamp malt lieber nicht, ihm erwächst stattdessen mit einer schlauchlosen Fahrradfelge auf einem Schemel der andere Nullpunkt. Man kann sich fragen, was seitdem eigentlich vorangegangen ist, wie viel weiter wir eigentlich sind. Pablo Picasso erholt sich vom Tod seines Vaters und auch von dem seines Hundes, malt und wird in der deutschen Kritik für blass befunden. Überall grassiert die Neurasthenie, die Nerven flackern in der Nähe dessen, was heute Burn-out heisst.

«Geist und Staat», hat Golo Mann für die Jahre vor dem Krieg einmal notiert, «lebten getrennt voneinander.» Und: «Die im Reich des Geistes wohnten, fanden das Treiben des Kaisers zu komisch oder ekelhaft, um es sehr ernst zu nehmen. Auch die Bemühungen der politischen Parteien, bürokratischer, geistloser Organisationen, liessen sie gleichgültig.»

Einer solchen hochaktuell klingenden Bemerkung setzt Illies weder etwas entgegen, noch entkräftet er den Sprengstoff, der darin liegt. Vielmehr kommt er mit seiner Montage der Anekdoten irgendwie auch an der Beschreibung der Zeit vorbei. Darunter ordnen sich Verhältnisse, Beziehungen und Einflüsse werden klar: Elias Canetti zieht nach Wien und beginnt die deutsche Sprache zu erlernen, Bertolt Brecht ist ein vermutlich etwas streberhafter Pennäler, und spät im Jahr wird einer geboren, der später Willy Brandt heissen muss.

Ein fatales Grundgefühl

Wenn bei Schnitzler Champagner getrunken wird und das Buch um ist, hat es grossen Spass gemacht. Zurück aber bleibt ein etwas dünnes Echo. Denn all diesen und noch vielen anderen Ereignissen liegt nicht nur das Vorgefallene, sondern auch die Vorahnung zugrunde. Über das Jahr 1913 beugt sich drohend das nächste, in dessen Sommerfrische der Erste Weltkrieg platzte. Deshalb mag einem Illies’ Wahl geschickt oder auch ein wenig opportunistisch vorkommen. In der horizontalen Montage all der Begegnungen, Vatermorde, Liebschaften und Abneigungen liegt aber ein grosser Reiz: Wir ziehen scheinbar ein in das Jahr, in dem die zeitgenössische Idee, die wirtschaftliche Entwicklung würde notwendigerweise einen Krieg verhindern, so dankend aufgenommen wurde, dass es Golo Manns Sicht auf die Haltung der Kulturelite nur bestätigt.

Da sekundiert Illies. Aber der Historiker geht ein Stück weiter, er sieht, dass zwischen all dem rastlosen Herumirren, dem Liebeswahn und den Neurosen ein fatales Grundgefühl vorherrschte: «Es war bisher gut gegangen. Es würde irgendwie weitergehen.»

Florian Illies: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2012. 319 Seiten. Fr. 28.90

Florian Illies

Der 1971 im hessischen Schlitz geborene Journalist, Kunsthistoriker und Autor Florian Illies arbeitete zwischen 1997 und 2004 als Redaktor bei der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Mit «Generation Golf», einer Reflexion über die um 1970 geborene Generation, landete er 2000 einen Bestseller.