Medienanalyse: Ein Plädoyer für den Plural

Nr. 6 –

Für Charlotte Wiedemann ist die eurozentrische Berichterstattung über «das Fremde» – etwa über muslimische Gesellschaften – mehr als ärgerlich. Ursachen und Folgen zeigt sie in ihrem neuen Buch auf.

Bilder und Stimmungen prägen die Reportagen Charlotte Wiedemanns; durch verschiedene Perspektiven wird eine Wirklichkeit voller Komplexität und Respekt erzählt. So beschrieb die Autorin in der WOZ (Nr. 2/13) die malische Staatskrise kurz vor der Intervention Frankreichs: «Man begreift in diesem Moment, welch ungeheure Anstrengung sich hinter dem Gleichmut verbirgt. Es ist die Anstrengung der grossen Mehrheit der MalierInnen, sich selbst, ihre Familien und letztlich das Land irgendwie in einer Balance zu halten, in einem prekären Gleichgewicht. Das Symbolbild dieser Krise ist nicht der Vermummte mit Kalaschnikow, sondern eine Schüssel mit Essen, in die immer mehr Hände greifen.»

Die Reportage ist ein «Versuch, nicht weiss zu schreiben». Im gleichnamigen Buch setzt sich Wiedemann mit grossen Fragen auseinander: Was ist Wirklichkeit, und wie wahrhaftig ist das Bild davon, das wir durch die Medien vermittelt bekommen? Warum vermitteln fast alle Medien ein solch uniformes, vereinfachendes Bild des «Fremden», und was sind die Folgen davon? Die erfahrene Journalistin hat 26 aussereuropäische Länder bereist; sie schreibt auch regelmässig für «Die Zeit», «Geo» und die deutschsprachige Ausgabe von «Le Monde diplomatique» (zum Beispiel in der Februar-Nummer, die dieser WOZ beigelegt ist).

Medientauglicher Islam

Jedes der elf packend und sorgfältig geschriebenen Kapitel könnte als eigenständiger Essay für sich stehen. Einige Kapitel kommen vordergründig als Erfahrungsberichte über Reportagen in einzelnen Ländern daher; andere als thematische Abhandlungen. Doch die grossen Fragen und einzelne Antwortversuche tauchen in sämtlichen Kapiteln auf, und schliesslich ergänzen sie sich auf fast schon wundersame Weise. Wie Wiedemanns Reportagen ist das Buch ein Tribut an die Komplexität der Welt und an die Subjektivität der Wahrnehmung – und damit auch eine Befreiung von der hartnäckigen, aber illusorischen journalistischen Prämisse, die Welt objektiv und neutral zu betrachten.

Vieles im Buch dreht sich um die «Unfähigkeit, den Plural zu denken». Diese Unfähigkeit, die auch eine Unwilligkeit ist, äussert sich nicht zuletzt in der von vielen Medien und sogenannten IslamexpertInnen verbreiteten Sicht, «dass ein monolithischer Islam einen wehrlos-heterogenen Westen bedroht». Nur schon durch das Nennen grundsätzlicher Fakten – etwa dass achtzig Prozent der 1,6 Milliarden MuslimInnen nicht arabisch sprechen – zeigt Wiedemann auf, dass allgemeine Aussagen über «die islamische Welt» nur möglich sind, wenn man sie auf ihre Religion reduziert und Politik, Kultur, Ethnie und Individualität beiseitelässt.

Der Vorwurf, den Plural nicht denken zu wollen und «die eigene Weltsicht absolut zu setzen», richtet Wiedemann auch an viele Linke und Feministinnen: «Sie vermögen Fortschritt nur zu erkennen, wenn er ihnen vertraute Konturen hat.» Wiedemann selbst erkennt dagegen muslimische Gesellschaften, die wie nie zuvor mit ihrer eigenen Pluralität ringen. Nur Salafisten und Dschihadisten «geben dem Westen die Eindeutigkeit, die er verlangt: einen radikalen, flachen, medientauglichen Islam».

Die Welt im Ausnahmezustand

Die Medienstrukturen, die zunehmend keine echten Reportagen, sondern nur noch «Geschichten» nach vorgefassten Meinungen zulassen, verlangen aber nicht nur nach dem gefährlichen Fremden, sondern auch nach einer «faszinierenden Exotik». Diese liefert ganz besonders Thailand, «das Land des Lächelns». Wiedemann zeigt auf, «wie wirkmächtig eine einmal eingeschliffene Erzählung ist und wie sie sich selbst ernährt» – selbst wenn die Realität voller Gewalt und Ungerechtigkeit ist und es auch mit «dem Klischee vom sanften Buddhismus» nicht weit her sei. Wie beim Islam empfiehlt sich auch hier der Plural – die Autorin ortet in Thailand eine weitreichende «Krise des Buddhismus».

Die neueren Entwicklungen der Medienstrukturen sieht Wiedemann überaus negativ. Die Globalisierung und die moderne Kommunikationstechnik brächten nicht mehr Vielfalt, sondern führten zu Einfalt und zu einer Verflachung der Wahrnehmung: «Unsere Sichtweise macht die Länder gleicher, als sie sind.» Und die durch die harte Medienkonkurrenz zunehmende Dramatisierung in Nachrichten lasse die Welt dauernd im Ausnahmezustand erscheinen. Dem kann Wiedemann nur den Appell an Redaktoren und Reporterinnen entgegensetzen, es besser zu machen.

Etwas unklar ist die Zielgruppe des Buchs. Doch natürlich sollte man auch hier im Plural denken: Für einige JournalistInnen – und gerade die, die am meisten davon lernen könnten – dürfte der «Werkstattbericht» zu wenig konkrete Handlungsanweisungen enthalten. Doch für all die interessierten MediennutzerInnen, die sich durch den täglichen Ansturm kontextfreier Nachrichten irgendwie unwohl (und für dumm verkauft) fühlen, ist es ein grosses Privileg, mit Charlotte Wiedemann durch die Welt zu reisen. Und dabei zu sein, wenn sie durch ihre Beobachtungen und Zweifel philosophische Fragen aufwirft. Dass sie die Fragen sorgfältig umkreist und keine simplen Antworten liefert, liegt im Wissen begründet, dass für andere auch alles ganz anders sein könnte – im Versuch eben, den Plural zu denken.

Charlotte Wiedemann: Vom Versuch, nicht weiss zu schreiben. Oder: 
Wie Journalismus unser Weltbild prägt. PapyRossa Verlag. Köln 2012. 185 Seiten. Fr. 19.90