En passant: Der Umsturz

Nr. 14 –

«Ende April müssen wir umziehen», erzähle ich, «obwohl der Mietvertrag bis September läuft. Aber der Eigentümer will die Wohnung verkaufen.» Noch vor dem 1. Mai. Denn ab diesem Tag gibt es in China eine neue Steuer, zwanzig Prozent auf den realisierten Wertzuwachs beim Verkauf einer Zweitwohnung. «Deswegen lassen sich auch im Moment so viele Paare scheiden», sagt mein Gegenüber, «dann haben beide eine Erstwohnung. Und wenn sie die verkauft haben, können sie wieder heiraten – und eine gemeinsame Erstwohnung kaufen. Dafür bekommen sie bei der Bank sogar einen Vorzugskredit.»

An der Tür zur Abteilung des Innenministeriums des Minxing-Distrikts von Schanghai, einer Art Bezirksstandesamt, haben die BeamtInnen sogar ein Schild aufgestellt: «Der Immobilienmarkt birgt Risiken, eine Scheidung will wohlüberlegt sein.» Seit dem Bekanntwerden des neuen Steuergesetzes hat sich die Zahl der Scheidungen verdreifacht.

«Die Leute brauchen bei der ganzen Unsicherheit hier einfach etwas, auf das sie sich verlassen können», sagt der Gesprächspartner. Denn eine feste Bleibe haben inzwischen nicht einmal mehr die Toten. «In der Stadt Zhoukou [in Chinas bevölkerungsreichster Provinz Henan] werden im grossen Stil Gräber eingeebnet.» Das wiederum können die ChinesInnen überhaupt nicht ertragen. Früher gehörte das Ausgraben der Vorfahren zu den Strafen für die allerschlimmsten Verbrechen; ein Grund für den Boxeraufstand 1900 war, dass die Deutschen meinten, beim Bau ihrer Eisenbahn in der Provinz Shandong auf Gräber keine Rücksicht nehmen zu müssen.

Auf Weibo, dem chinesischen Twitter, tauchten prompt Meldungen auf, denen zufolge die Gräber der Vorfahren von hohen Zhoukouer BeamtInnen nicht eingeebnet würden, weil sie unter Denkmalschutz stünden. Verbreitet wurde auch ein Foto, auf dem zwei Männer zu sehen sind, die mit Schaufeln auf einem Grab stehen, im Vordergrund ein rotes Banner: «Yue Wenhai [Vizesekretär des Zhoukouer Parteikomitees], deine Mutter ruft nach dir, du sollst ihr Grab plattmachen» steht darauf.

«Das alles kannst du auf Weibo finden. Viele Sachen stehen nur fünf Minuten da, dann werden sie gelöscht, aber in den fünf Minuten werden sie weitergeleitet. 1989 haben nur die Studenten klar gesehen, die Bevölkerung war noch nicht so weit. Durch Weibo ist das jetzt anders. Bald ist Schluss.»

Eigentlich wollte ich nur erzählen, dass wir bald umziehen müssen, und vielleicht noch ein bisschen über die hohen Beijinger Mieten jammern. Bemerkenswert ist nicht, wie mein Gegenüber auf einmal auf den Umsturz kommt, sondern dass so ein Gesprächsverlauf schon gar nicht mehr ungewöhnlich ist.

Wolf Kantelhardt berichtet für 
die WOZ aus Beijing.