Lateinamerika: Das schwere Erbe des Hugo Chávez

Nr. 14 –

Was folgt auf Hugo Chávez? Das Selbstbewusstsein, das Chávez Lateinamerika gegeben hat, können am ehesten zwei Frauen konsolidieren: Dilma Rousseff in Brasilien und Cristina Fernández de Kirchner in Argentinien.

Nicolás Maduro gibt sich ganz bescheiden: «Ich bin ein Mann von der Strasse», sagte er bei einer Wahlkampfveranstaltung in Caracas. «Ich stehe nicht hier als Übergangspräsident und vom 15. April an als Präsident, weil ich eitel wäre oder persönliche Ambitionen hätte. Ich stehe hier, weil Chávez das befohlen hat. Und ich werde diesem Befehl gehorchen.»

Durchschnittlich 200-mal am Tag, das haben ErbsenzählerInnen herausgefunden, nimmt Maduro den Namen Chávez in den Mund, meist in Kombination mit dem Titel «Comandante». Er provoziert und polarisiert, wie das sein Meister getan hat, hat den bürgerlich-konservativen Gegenkandidaten Henrique Capriles einmal gar einen «widerlichen Faschisten» genannt. Solche Unflätigkeiten sind sonst nicht seine Art. Und obwohl ihm das stundenlange Reden vor der Kamera im Grunde nicht liegt, hat er «Aló, Presidente», die nach dem 29. Januar 2012 aus Gesundheitsgründen eingestellte Fernsehshow des Hugo Chávez, unter dem Namen «Diálogo Bolivariano» wieder aufgenommen.

Seit dem Krebstod des charismatischen Staatschefs am 5. März 2013 bemüht sich Maduro, dessen Abziehbild zu geben. Und er entrückt ihn gleichzeitig in den Himmel: «Wir erklären uns zu Aposteln des Hugo Chávez», sagt er und spricht vom «ewigen Kommandanten», vom «Christus der Armen». Am 8. Dezember vergangenen Jahres wurde er von Chávez zum Erben designiert. Nun lässt er sich von der trotzigen Jetzt-erst-recht-Trauer der VenezolanerInnen ins Präsidentenamt tragen. Kaum jemand zweifelt, dass er die Wahl am 14. April gewinnen wird. Glaubt man den Umfragen, wird der Vorsprung gegenüber Henrique Capriles sogar noch grösser ausfallen als der von Chávez bei dessen letztem Wahlsieg im vergangenen Oktober. Doch Maduro mag noch so tun, als sei alles gut, als ginge alles weiter wie gehabt: Der Tod des Comandante ist ein Einschnitt. Nichts wird mehr sein wie vorher. In Venezuela nicht und auch nicht in Lateinamerika.

Pragmatiker statt Idealisten

Die grösste Verunsicherung herrscht in Kuba. Er sei «schwer getroffen», schrieb Fidel Castro noch am Todestag. Das Land habe «seinen besten Freund verloren». Er und sein Bruder Raúl gehörten zu den wenigen Menschen, die schon vorher wussten, was kommen würde. Ihre besten MedizinerInnen hatten sie aufgeboten, um Chávez doch noch zu retten. Als sie ihn Mitte Februar überraschend nach Caracas entliessen, wussten sie, dass es nur noch ums Sterben ging. Wer soll ihn ersetzen? Sein Venezuela war im vergangenen Jahrzehnt für Kuba das geworden, was früher die Sowjetunion war. Als die damals verschwand, brach die Wirtschaft in Kuba um ein gutes Drittel ein; ein Horrorszenarium, das sich ohne die Hilfe aus Venezuela wiederholen wird.

Von den rund 20 Milliarden US-Dollar, die Kuba 2011 im Aussenhandel erwirtschaftet hat, wurden 8,3 Milliarden mit Venezuela abgewickelt. Allein 6 Milliarden Dollar im Jahr kassiert die Insel für die rund 40 000  Ärztinnen, Krankenpfleger und anderes Fachpersonal, die ins Land von Hugo Chávez entsandt wurden. Das sind über 500 US-Dollar pro Kopf der kubanischen Bevölkerung und rund das Doppelte von dem, was DurchschnittskubanerInnen pro Jahr verdienen.

Kuba kassiert nicht Cash, sondern billiges Öl: 100 000  Fass am Tag – mehr, als das Land verbraucht. Der Überschuss wird auf dem Spotmarkt verkauft und bringt dringend benötigte Devisen. Solche Geschäfte konnten nur Chávez und Fidel miteinander ausmachen. Nun ist der eine tot und der andere ein Politrentner. Statt zweier Idealisten aus Überzeugung sind zwei Pragmatiker an der Macht. Die Kombination Nicolás Maduro / Raúl Castro, das höre sich nicht so warm an wie Chávez/Fidel, sagt ein Kader der Kommunistischen Partei Kubas.

Ähnlich erschreckt ist Daniel Ortega in Nicaragua. Das Glanzstück seiner Regierung – das Programm zur Bekämpfung der Armut – hängt am Öl aus Venezuela. Medikamente, Hausbau, Kleinkredite und was sonst noch alles dazugehört werden nicht aus dem Staatshaushalt finanziert, sondern aus den Gewinnen von Albanisa. Diese Firma importiert Öl zu Sonderbedingungen aus Venezuela: Fünfzig Prozent des Preises werden nach neunzig Tagen fällig, die andere Hälfte wird nach zwei zins- und tilgungsfreien Jahren über 25 Jahre mit zwei Prozent Zinsen zurückbezahlt. Verkauft aber wird das Albanisa-Benzin zu den Marktpreisen Nicaraguas. Aus dem Gewinn finanziert Ortega die Sozialprogramme.

Zwar profitieren auch andere Länder des karibischen Raums von solchen Vorzugsbedingungen. Aber keines ist so abhängig davon, wie es Nicaragua ist. In den Jahren 2008 bis 2012 hat Albanisa mit den Ölimporten 2,2 Milliarden US-Dollar Schulden angehäuft – das ist fast die Hälfte des jährlichen Staatshaushalts, rund dreissig Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Letztlich ist dies unbezahlbar. Chávez war das egal.

Capriles, Maduros Herausforderer bei der Präsidentschaftswahl, sagt es klipp und klar: Wenn er gewinne, «wird es vorbei sein mit den Geschenken an andere Länder; es wird kein Tropfen Öl mehr nach Kuba gehen». Maduro spricht das Thema lieber nicht an. Aber er weiss, dass er etwas ändern muss. Denn der wichtigste richtig bezahlende Abnehmer des venezolanischen Erdöls sind nach wie vor die USA. Die aber haben in den vergangenen fünfzehn Jahren die Einkäufe in Caracas von 1,7 Millionen auf 1 Million Fass pro Tag heruntergefahren und bedienen sich mehr und mehr aus den Ölsanden Kanadas.

Abwertung und Inflation

96 Prozent der Exporteinnahmen Venezuelas hängen am Öl. Der staatliche Förderer PDVSA finanziert mit den Gewinnen 45 Prozent des Staatshaushalts. Und diese Gewinne sinken: von 2011 auf 2012 um 6,2 Prozent. Gleichzeitig steigt der Schuldenstand: Chávez hat PDVSA 1999 mit sieben Milliarden Dollar Schulden übernommen. Heute sind es knapp vierzig Milliarden. Es muss also etwas geschehen. Denn ohne Öl ist Venezuela nichts. Konsumgüter werden zu nahezu hundert Prozent gegen Devisen importiert, und diese Devisen werden knapp.

Im Wahljahr 2012 war der Wechselkurs zwischen dem heimischen Bolivar und dem US-Dollar per Dekret stabilisiert worden, um die Inflation von rund zwanzig Prozent in einem noch erträglichen Rahmen zu halten. Maduro musste schon als Statthalter des noch lebenden Chávez den Bolivar Mitte Februar um ein Drittel abwerten. Nun hat er angekündigt, er werde 200 Millionen US-Dollar zu einem möglichst hohen Bolivarbetrag versteigern lassen, um die Devisenknappheit der ImporteurInnen zu lindern – eine Verzweiflungsmassnahme, die eher an Kasinokapitalismus erinnert. Faktisch kommt sie einer weiteren Abwertung gleich, was die Inflation zusätzlich beschleunigen wird.

Maduro muss es richten

Maduro muss richten, was ihm Chávez an Wirtschaftsproblemen hinterlassen hat. Er wird dies ganz pragmatisch tun. Auch dafür wurde er auserwählt. Chávez mag ein Heisssporn gewesen sein, der schnell ein paar Teller zerschlagen konnte. Aber er wusste auch, dass er jemanden an seiner Seite braucht, der hinterher wieder aufräumt. Und weil er bevorzugt auf internationalem Parkett Porzellan zerdepperte, waren meist seine Aussenminister die Aufräumer. Schon sein erster, der distinguierte Menschenrechtsanwalt und Journalist José Vicente Rangel, hatte diese Funktion. Maduro ist bei Rangel in die politische Lehre gegangen: Als dieser 1983 vergeblich für das Präsidentenamt kandidierte, war der damals 21-jährige Maduro sein engster Begleiter und Leibwächter. Von 2007 bis 2012 diente er dann selbst Chávez als Aussenminister und soll als solcher zuletzt dreimal in Washington gewesen sein, um vom Chef zerbrochenes Porzellan wieder zu kitten.

Sosehr sich Maduro im Wahlkampf als kleiner Chávez gebärdet, er wird als Präsident kein Ersatz für ihn sein. Dafür ist er zu überlegt und zu wenig leidenschaftlich. Chávez’ Leidenschaft aber hatte Lateinamerika dringend nötig: einen Mann aus dem Volk, der zur regionalen Führungsfigur wurde. Chávez war der Erste seit Fidel Castro, der den USA die Stirn bot und der es sich leisten konnte, weil er auf Öl sass. Das gab Lateinamerika Selbstbewusstsein. In einem Jahrzehnt hat der vorlaute Chávez in Kombination mit der freundlichen Integrationsfigur Lula da Silva etwas geschaffen, was seit der Monroe-Doktrin von 1823 anstand: Lateinamerika versteht sich nicht mehr als Hinterhof der USA.

Hochhackig in Chávez’ Fussstapfen

Wer soll dieses kongeniale Duo ersetzen? Dilma Rousseff, die man zunächst für eine eher papierene Pragmatikerin hielt, hat sich in Brasilien als würdige Nachfolgerin Lulas entpuppt. Maduro könnte vom Typ her durchaus ähnlich werden wie sie, aber er wird sich zunächst einmal um sein eigenes Land kümmern müssen. Wer kann dann Rousseff ergänzen? Ecuadors Rafael Correa hat viel von Chávez gelernt. Auch er verbindet dieses sensible Gespür fürs Volk mit der Arroganz des Underdogs. Auch er hat den USA die Stirn geboten und ihre Militärbasis in Manta geschlossen, von der aus sie den Luftraum Lateinamerikas überwachten. Aber Ecuador ist klein und schwach und hat zu wenig Öl. Correa könnte so laut werden, wie Chávez es war – man würde ihn lange nicht so ernst nehmen. Ganz zu schweigen von Evo Morales im armen Bolivien.

Das nötige Gewicht bringt nur eine mit: Argentiniens Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner. Sie trug nie eine verschwitzte Uniform wie Chávez, sondern tritt in Designerkleidern auf und mit hochhackigen Schuhen. Ihre Aussage, dass sie selbst im Fall eines Erdbebens das Haus nie ungeschminkt verlassen würde, passt zu ihrer Erscheinung. Aber sie ist standhaft und kämpferisch und lässt sich von niemandem bevormunden: nicht von den mächtigen Agroindustriellen zu Hause, nicht von Weltbank und Internationalem Währungsfonds und auch nicht von den USA. Darin ist sie Chávez so ähnlich wie sonst niemand unter den StaatschefInnen Lateinamerikas. An ihr und an Dilma Rousseff wird es liegen, ob das, was Chávez und Lula geschaffen haben, in den nächsten Jahren konsolidiert werden kann.

Hart gegen Erpresser

Der Rechtsstreit dauert schon Jahre: Der US-amerikanische Spekulant Paul E. Singer hatte kurz nach dem Staatsbankrott Argentiniens Anfang 2002 Anleihen des Lands zu einem Spottpreis aufgekauft. Seither versucht er, den vollen Nennwert der Bonds einzutreiben (siehe WOZ Nr. 3/13). Einschliesslich Zinsen und Zinseszinsen soll Argentinien für die Papiere 1,33 Milliarden US-Dollar bezahlen.

Ein Gericht in New York hatte vergangenen November die Zahlung angeordnet. Argentinien ging in Berufung und bekam die Auflage, einen Zahlungsplan vorzulegen. Am Freitag wurde er präsentiert: Singer werden dieselben Konditionen angeboten, die 92 Prozent der GläubigerInnen bei zwei Schuldenschnitten 2005 und 2010 akzeptiert hatten. Für 100 Cent Nennwert der alten Bonds soll es zwischen 25 und 29 Cent in neuen Anleihen geben. Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner lässt sich von SpekulantInnen nicht erpressen.