Personenrätsel: Der verschollene Kommunarde

Nr. 15 –

«Il n’y sera plus, et nous y serons!», sagte er am Ende des Internationalen Arbeiterkongresses 1869 in Basel und meinte damit Napoleon III.: Er wird nicht mehr da sein, wir aber schon! Lachend habe er dieses Adieu den anderen Delegierten beim Abschied zugerufen – mit «blitzenden, heiteren, kampffrohen und lebenslustigen Augen», wie sich später der deutsche Sozialist Wilhelm Liebknecht erinnerte. Es kam anders. Napoleon war zwar bald nicht mehr Kaiser Frankreichs, doch er überlebte den jungen Agitator, Kooperativengründer und Internationalisten – wenn auch nur um zwei Jahre.

Geboren wurde einer «der Besten», wie Jenny Marx ihn in einem Brief 1871 nannte, 1839 als ältester Sohn einer armen Bauernfamilie in Claye-Souilly östlich von Paris. Sein Vater besass einen kleinen Weinberg, der jedoch kein Auskommen bot, und arbeitete daher als Tagelöhner auf den benachbarten Höfen; seine Mutter zog die vier Kinder gross. Nachdem er im Alter von dreizehn Jahren die Schule verlassen hatte, absolvierte er in der Hauptstadt eine Lehre als Buchbinder (später sollte er auch noch Lateinisch lernen). Nach einer Lehre als Maler zog er in die Hauptstadt und wurde Buchbinder. Beeinflusst von den Ideen Pierre-Joseph Proudhons, war er im Alter von achtzehn Jahren an der Gründung eines Sozialhilfevereins beteiligt, aus dem später die Buchbindergewerkschaft hervorging, deren ersten Streik er 1864 anführte. Er gründete auch den Spar- und Kreditverein der Buchbinder, verhalf der feministischen Anarchistin Nathalie Lemel zu einem führenden Posten in dieser Bank und setzte sich für die Gleichberechtigung der Frau sowie die Vergesellschaftung der Kindererziehung ein. Er war an der Bildung von Kollektiven wie der Konsumgenossenschaft La Ménagère beteiligt, baute 1868 mit Lemel die Gastronomiekooperative La Marmite auf, sammelte im selben Jahr Geld für den Genfer Bauarbeiterstreik und wurde immer wieder verhaftet. 1868 landete er wegen seiner aufrührerischen Tätigkeit für drei Monate im Gefängnis.

Das hielt ihn nicht davon ab, seine Gewerkschaft in die Internationale Arbeiterassoziation (IAA), die Erste Internationale, zu führen, für deren Büro er in Paris zuständig war. Er beteiligte sich an IAA-Kongressen in London, Genf und Basel, wo er als linker Proudhonist und Syndikalist den AnarchistInnen um Michail Bakunin näher stand als den von Karl Marx angeführten KommunistInnen: Gewerkschaften, Streiks und Kollektive seien für «Europas soziale Revolution» zentral.

Doch dann kam der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71, in dessen Folge die Pariser Commune entstand, eine Erhebung der Bevölkerung von Paris – die erstmals die Gleichstellung der Frau, die Trennung von Kirche und Staat, die Kollektivierung von Fabriken und die Rätedemokratie umsetzte. Obwohl er militärische Gewalt ablehnte, war der damals 31-Jährige an vorderster Front dabei: beim Sturm auf die Paläste, als Finanzstadtrat der revolutionären Commune, als Barrikadenkommandant. Gleichzeitig organisierte er Lebensmittelpakete für die notleidende Pariser Bevölkerung und versuchte vergeblich, die Erschiessung von Geiseln zu verhindern: Etwa fünfzig Spitzel, Polizisten und Priester wurden als Vergeltung für die Gemetzel an Tausenden von KommunardInnen getötet.

Wie hiess der unermüdliche Organisator der französischen ArbeiterInnenbewegung, nach dem in französischen Städten Schulen und Strassen benannt sind und der am letzten Tag der Commune, am 28. Mai 1871, an die Wand gestellt und in einem Massengrab verscharrt wurde?

Wir fragten nach dem Autodidakten, Gewerkschaftsgründer und Kommunarden Eugène Varlin (5. Oktober 1839 bis 28. Mai 1871), über den im deutschsprachigen Raum nur 
wenig bekannt ist. Karl Marx hatte «dem werten Bürger Varlin» fünf Tage vor dessen Tod noch 
geschrieben: «Seien Sie auf der Hut!» Aber das nützte nichts mehr. Nachdem die letzte Pariser 
Barrikade gefallen war, verriet ein Priester den flüchtenden Varlin. Soldaten hätten mit Kolben 
auf ihn eingehauen und mit Bajonetten zugestochen, schrieb später der Mitkommunarde Prosper-Olivier Lissagaray: «Unter dem Hagel von Schlägen wurde sein nachdenklicher junger Kopf, der 
nie andere als brüderliche Gedanken gehegt hatte, zu einem Fleischbrei, aus dem ein Auge heraushing.» Kurz darauf wurde er in Montmartre erschossen. Varlins Leichnam wurde nie gefunden.