Fürsorgerische Zwangsmassnahmen: Was kostet ein Leben?

Nr. 16 –

Erhalten Verdingkinder nach der Entschuldigung eine Entschädigung? Ein Blick auf ähnliche Fälle lässt daran zweifeln.

Bundesrätin Simonetta Sommaruga hat sich letzte Woche bei den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen «aufrichtig» entschuldigt. Es flossen Tränen. Viele Betroffene hatten auf diesen Moment gewartet. Aber dieses dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte ist damit nicht abgeschlossen. Werden Verdingkinder, die Zwangsarbeit leisteten, Frauen, die zwangssterilisiert wurden, und Heimkinder als Gewaltopfer je eine Wiedergutmachung erhalten?

Das vorliegende Rehabilitierungsgesetz, das von Paul Rechsteiner (SP) initiiert wurde, sieht keine Entschädigung vor. Im Moment sei politisch nicht mehr drin, sagt der Ständerat. Damit liegt der Entwurf auf der Linie früherer Vorlagen von «kostenlosen» Rehabilitierungen, etwa in den Fällen der FluchthelferInnen im Zweiten Weltkrieg oder von antifaschistischen SpanienkämpferInnen.

Vorgesehen ist eine historische Aufarbeitung des Unrechts, die Sicherung der Akten sowie der freie Zugang dazu. Noch hat das Parlament das Gesetz nicht behandelt. Eine Minderheit der Rechten stemmt sich gegen die Aufarbeitung: Offenbar will sie keine neue Bergier-Kommission, die zu viel Unangenehmes enthüllen könnte.

Schmerzensgeld für Jenische

Die Entschädigungsfrage stand schon einmal auf der Agenda: 2004 verlangte Margrith von Felten (SP) mit einer Motion, die Opfer von Zwangssterilisierungen zu entschädigen. Das Vorhaben scheiterte am Widerstand von rechts, angeführt vom damaligen Justizminister Christoph Blocher. Die Eingriffe seien rechtmässig vorgenommen worden, rechtfertigte Blocher legalistisch das Unrecht. Und er warnte davor, dass nach den Zwangssterilisierten auch die Verdingkinder Ansprüche stellen würden.

Für den Zürcher Historiker und Experten Thomas Huonker ist klar, dass Leid nicht durch Geld ungeschehen gemacht werden kann. Dennoch sei eine finanzielle Wiedergutmachung nötig. Alles andere sei ein Hohn gegenüber Menschen, deren Leben durch administrative Verwahrung, Zwangsarbeit auf Bauernhöfen und Versenkung in Kinderheimen zerstört wurde. Huonker erinnert an Präzedenzfälle, wo Opfern bereits Schmerzensgeld zugesprochen wurde. Ein Beispiel sind die Jenischen, wo sich der Bund 1986 im Anschluss an den Skandal des Pro-Juventute-Hilfswerks «Kinder der Landstrasse» an einer Stiftung beteiligte. Als weiteres Beispiel nennt Huonker den Fall Mogelsberg im Kanton St. Gallen.

Präzedenzfall Mogelsberg

Dieser Fall aus dem Jahr 1998 zeigt die Probleme bei der Durchsetzung von Wiedergutmachungsansprüchen. Im Kinderheim Bild im abgelegenen Neckertal hatte ein 71-jähriger Heimleiter ein jahrelanges Terrorregime geführt. Die Zöglinge wurden gedemütigt, geschlagen und missbraucht. Ein Filz aus wegschauenden Gemeindebehörden, Gönnern aus dem Rotary Club, der das Heim unterstützte, ahnungslosen Medien und einer nicht existenten Heimaufsicht des Kantons hatte den andauernden Missbrauch ermöglicht. Der Heimleiter wurde wegen sexuellen Missbrauchs dreier kleiner Mädchen zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt.

Die Lösung der Entschädigungsfrage geriet zum politischen Trauerspiel. Die 33 Opfer verlangten eine Wiedergutmachung von insgesamt 890 000  Franken. Die St. Galler Regierung kürzte den Betrag kurzerhand auf 500 000  Franken. Dem Heimskandal folgte der politische auf dem Fuss. Das höchste Schmerzensgeld erhielt ein Opfer, das fünfzehn Jahre lang gelitten hatte: 22 000  Franken. Dennoch gilt St. Gallen jetzt als eines der wenigen Beispiele, wo immerhin Opfer von staatlich mitzuverantwortender Gewalt entschädigt wurden.

Thomas Huonker begrüsst das zur Debatte stehende Rehabilitierungsgesetz, weil sich alle Beteiligten zur Aufarbeitung zusammengefunden haben. Die «Täter» in diesem Drama waren autoritäre Sozialbehörden, Landwirte als Profiteure der «Sklavenarbeit» von Verdingkindern und LeiterInnen katholischer Heime, in denen Kinder drangsaliert wurden. Irland gilt derzeit als aktuellstes Beispiel einer gelungenen Rehabilitierung: Nach einer eingehenden Untersuchung stellten Staat und Kirche letztes Jahr den hohen Betrag von 1,4 Milliarden Euro für misshandelte Kinder bereit.