Low, Feldman und Bärtsch: Die Dehnung der Zeit

Nr. 16 –

Mit minimalistischen Strategien gehen MusikerInnen aus unterschiedlichen Bereichen gegen die Zeitkrankheiten Hektik und Hyperkomplexität an – Reduktion und Einfachheit werden neu entdeckt.

«Langsame Musik klingt leise am besten»: Alan Sparhawk, Mimi Parker und Steve Garrington von der Minimal-Band Low.

Ihr Bandname steht für «low speed» und «low volume». Vor zwanzig Jahren gegründet, hat sich die US-amerikanische Gruppe Low einem Stil verschrieben, der als Anachronismus in einer Welt des Überschalls erscheinen muss. Low machen Pop in Zeitlupe, Songs im Schneckentempo. «Slowcore» sagen sie dazu, was als Kontrapunkt zu Speedmetal zu verstehen ist. «Früher traten wir häufig bei Bandnights zwischen einer Punk- und einer Grungeband auf. Es fühlte sich an, als ob wir gegen die Stimmung der Leute anspielten», erzählt Mimi Parker, Schlagzeugerin und Sängerin von Low. «Wir bekamen Panikattacken, weil wir leise und minimalistisch musizierten. Am liebsten wäre ich manchmal davongelaufen. Doch gelegentlich gab es eine magische Verwandlung. Die Zuhörer liessen sich auf unsere Musik ein.»

Low nehmen sich bewusst zurück. Die Beschränkung auf das Allernotwendigste verwandelt ihre Songs in Miniaturen von fragiler Einfachheit. Ein anderes Zeitmass wird etabliert. Durch die Verlangsamung nehmen die HörerInnen die Musik anders wahr, einzelne Worte und Töne bekommen mehr Gewicht. «Langsame Musik klingt leise am besten», weiss Mimi Parker. Und leise Musik bewirkt, dass das Publikum aufmerksamer zuhört. Die Stille funktioniert paradoxerweise wie eine Verstärkeranlage: Wenn man die Lautstärke zurückdreht, werden die Ohren der ZuhörerInnen grösser. «Als wir anfingen, spielten wir Nummern, die mit durchgehendem Grundton monolithisch und meditativ waren», erinnert sich Low-Gitarrist Alan Sparhawk. «Solche Stücke ziehen die Zuhörer hinein, was komplexere Kompositionen oft nicht schaffen. Der Minimalismus macht die kleinste Bewegung sehr gross.»

Feldman und Cage

Der Avantgardekomponist Morton Feldman (1926–1987) war eine Inspirationsquelle für Low. Vor allem Feldmans frühe Pianostücke haben es der Gruppe angetan. Sie dehnen die Zeit. Zwischen den Tönen und Akkorden entfaltet sich eine wundersame Spannung. Feldman war ein Meister der kleinen Form. Seine Miniaturen für Piano sind unscheinbare Stücke, die ganz auf die grosse Geste verzichten. Sparsame Töne von einer träumerischen Sinnlichkeit prägen die Kompositionen – manche kaum zwei Minuten lang. Die Pianistin Sabine Liebner, eine Spezialistin für avantgardistische Klaviermusik, hat durch ihre Einspielung von Werken der Komponisten der New York School wie John Cage, Christian Wolff und Earle Brown aufhorchen lassen. Mit ihrer aktuellen Einspielung trifft sie den richtigen Ton.

Feldman war eng mit John Cage befreundet. Mit seiner Komposition «4’33» entwarf dieser 1952 das ultimative Stück des Reduktionismus. Es besteht aus nichts anderem als vier Minuten und 33 Sekunden Stille. Cage ging es darum, das Nichts sinnlich erfahrbar zu machen, das für ihn eine Imagination von Ewigkeit war. Der Interpret oder die Interpretin ist gehalten, ganz ruhig am Instrument zu sitzen und keinen Ton hervorzubringen. Durch die Stille nimmt das Publikum plötzlich die Geräusche der Umgebung wahr, deren Poesie Cage betonen wollte. «Musik der Realität» war seine Bezeichnung dafür. «Was mir wirklich an dem stillen Stück gefällt, ist, dass es jederzeit gespielt werden kann», meinte er schelmisch.

Elektronik und Jazz

«4’33» von Cage wurde in den neunziger Jahren zum Fluchtpunkt einer internationalen Bewegung von AvantgardemusikerInnen, die sich einem radikalen Reduktionismus verschrieben hatten und in Wien, Berlin und London ihre Hauptquartiere hatten. Ihre asketische Musik neigte zur Ereignislosigkeit und war manchmal noch leiser als leise. In letzter Konsequenz ging sie vollkommen auf in der Stille. Der Zürcher Schlagwerker Christian Wolfarth ist mit dieser Szene lose verbunden. Er hat sein Schlagzeug mehr und mehr ausgedünnt und verkleinert, spielt heute oft nur noch auf einigen ausgesuchten Metallbecken, die er mit Geigenbögen streicht, um sie leise summen und brummen zu lassen. Monochrome Klänge, die oft wie elektronische Sounds klingen, ebben bei Wolfarth auf und ab und schimmern in bunten Farben.

Nur wenige Elemente prägen die elektronische Loopmusik der Formation To Rococo Rot, deren Mitglieder aus Düsseldorf und Berlin kommen. Meistens steht der von einem wuchtigen Bassriff getragene Rhythmus im Vordergrund. Melodie und Harmonik sorgen als dezente Klangfarben für Koloratur. Mit den Loops und der stetigen Wiederholung kommt ein trancehaftes Moment ins Spiel. Die Mitglieder des Trios sind Meister im Weglassen. «Wenn man in kompletter Dunkelheit sitzt, entwickelt das Gehirn von selbst Bilder, weil es keine Sinneswahrnehmung mehr gibt», erläutert Elektroniker Robert Lippok die Idee. «Unsere Musik funktioniert so ähnlich. Oft haben uns Konzertbesucher erzählt, dass sie Melodien hören, die gar nicht in den Stücken sind. Dadurch wird der Hörer zum Mitmusikanten und zum Teil der Band.»

JazzmusikerInnen gehen mit Tönen grosszügiger um. Der ökonomische Umgang mit den musikalischen Mitteln zählt nicht zu ihren Tugenden – im Gegenteil: Improvisationen laden die SolistInnen dazu ein, sich voll auszuspielen. Von diesem Musizierideal weicht das Duo Fifty-Fifty ab. Der Schlagzeuger Manfred Kniel schlägt vielschichtige Muster, die sich auf unterschiedlichen Zeitebenen bewegen und sich loopartig wiederholen. Ekkehard Rössle am Saxofon gibt sparsame, vom Cooljazz beeinflusste Töne dazu. Sie führen die Musik auf ihre Urelemente zurück: Melodie und Rhythmus. Transparenz und Räumlichkeit gehen daraus hervor. «Die psychologische Herausforderung besteht darin, dem Erwartungsdruck der Zuhörer nicht nachzugeben und seine Virtuosität und Spieltechnik in Zaum zu halten», stellt Kniel fest. «Es ist schwierig, Zurückhaltung zu üben und sein Ego zurückzustellen. Musiker haben Angst vor der Stille und neigen dazu, sie mit Tönen und Klängen zuzukleistern.»

Von Feldman lernen

Mit Zen-Funk sucht der Zürcher Nik Bärtsch mit seinem Ensemble Ronin diese Falle zu umgehen. Kleinste melodische Partikel werden stetig wiederholt, leicht variiert und verzahnt. Pausen sind so wichtig wie Töne und Klänge. «Ich habe von Morton Feldman gelernt: Wenn man eine musikalische Idee klar vermitteln will, sollte man es so einfach wie möglich tun», erläutert Bärtsch seinen Ansatz. «Dazu muss man seine Ästhetik total klären und zuspitzen. Wenn die Mikrophrasierung, die kleinen Verschiebungen, das Timing und das Timbre eine Rolle spielen sollen, muss auch Platz in der Musik sein, um das überhaupt wahrnehmen zu können. Das Narrative einer Melodie kann sehr spannend sein, zieht aber Aufmerksamkeit vom rhythmischen Geschehen ab.» Bärtschs Musik nimmt sich Zeit, baut sich nur langsam auf: Kurze rhythmische Formeln, Melodien und Riffs laufen in immer gleicher Manier im Kreis und greifen mit der Präzision eines Uhrwerks ineinander: Labyrinthe, in denen man sich verlieren kann.

Low: «The Invisible Way». Sub Pop / Irascible.

Sabine Liebner: «Morton Feldman. 
Early Piano Pieces». Wergo/Tudor.

Christian Wolfarth: «Acoustic Solo Percussion», Vol. 1–4 & Remixes. Hiddenbell.

To Rococo Rot: «Rocket Road». City Slang / TBA.

Fifty-Fifty: «Let’s Count». Klangbad/Import.

Nik Bärtsch’s Ronin: «Live». ECM/Musicora.