35. Solothurner Literaturtage: «Auch ein wenig Sand im Getriebe»

Nr. 18 –

Anfang, Neubeginn, Fortsetzung: ein Gespräch mit Bettina Spoerri, der neuen Leiterin der Solothurner Literaturtage, über den leeren Raum, das Potenzial des Unfertigen und den Stand der Schweizer Literatur.

Bettina Spoerri, die neue Leiterin der Solothurner Literaturtage, an der Aare in Solothurn, gegenüber dem Landhaus, dem Zentrum der Literaturtage: «Das (Land-)Haus ist nah am Wasser gebaut, das Wasser ist ständig in Bewegung, kommt von einem Ort und fliesst vorbei an einen anderen – und am Ende ins weite Meer.» Foto: Ursula Häne

WOZ: Bettina Spoerri, auf den Plakaten zu den aktuellen Solothurner Literaturtagen liegt quer über blauem Hintergrund mit vielen Buchrücken ein leeres Blatt. Das suggeriert nicht nur Anfang, sondern auch Offenheit …
Bettina Spoerri: Die Idee zum Thema «Anfänge» entstand in der Programmkommission. Von Anfang an waren wir der Meinung, dass es gut wäre, ein Themendach zu haben, das gut kommunizierbar ist – auch wenn sich dann längst nicht alles daran orientieren muss.

Natürlich nehmen die «Anfänge» auch darauf Bezug, dass erstmals seit Beginn der Literaturtage, nach 34 Jahren, in denen Vrony Jaeggi hauptverantwortlich war, eine neue Leitung übernimmt. Doch gibt uns das Thema auch grosse Freiheit: In diesen weissen Raum lassen sich viele Texte und Formate legen, die nicht zwangsläufig in einen engen Trichter führen. So haben wir, die Programmkommission und zwei Mitglieder der Geschäftsleitung, auch die Texte für die Werkschau Schweizer Literatur ausgewählt: Texte, die wir für die interessantesten, anregendsten, allenfalls auch gewagtesten halten, die in letzter Zeit produziert wurden.

«Anfang» als Thema heisst aber auch, diesen Geist in Gefässen aufzunehmen – weniger «Frontalunterricht», vermehrt Möglichkeiten des Gesprächs, der Diskussion, der Partizipation. Wir führen aber auch bestehende Gefässe weiter: Übersetzungsateliers, moderierte Gespräche oder interaktive Formen. Für dieses Jahr haben wir sogar ein eigenes Anfänge-Spiel erfunden.

Was für ein Spiel?
Ein Spiel, bei dem Autorinnen und Autoren zu ersten Sätzen aus bestehenden Texten eine eigene Geschichte erfinden: Drei bis vier Autoren bekommen einen ersten Satz aus einem nicht wiedererkennbaren Text und haben drei Minuten Zeit, sich dazu ein Buch auszudenken. Am Schluss wird natürlich enthüllt, um welches Buch es sich jeweils handelte. Aber das ist nicht der Punkt. Es geht vielmehr darum: Welches Potenzial hat ein erster Satz? Was lässt ein Textanfang anklingen? Wie beim Icon Poet können die Zuhörer auch bei diesem Spiel immer schon mitschreiben und mitdenken – und am Schluss ihre Version einbringen.

Insgesamt: weg vom Festgeschriebenen – in einen Raum, aus dem Neues entsteht …
Ja, in diese Richtung, ein Aufbruch – wenn es auch weiterhin viele klassische Leseformate an den Literaturtagen gibt. Aber es ist anregend, auch die Möglichkeiten zu entdecken, die im Unfertigen liegen, in der Werkstattsituation. Der Moment der Kreation ist fragil, man muss Tausende von Entscheidungen treffen. Die Reflexion über das Anfangen ist so auch eine über das Funktionieren von Literatur überhaupt – und über die Mechanismen des Literaturbetriebs.

Zum «Anfang» gehört auch die Rubrik «Debüts». Nach welchen Kriterien habt ihr aus den vielen Erstlingen ausgewählt?
In der Auswahlkommission lasen und diskutierten wir viel und wählten die Texte, die uns literarisch am meisten überzeugten. Es gibt natürlich immer auch die Möglichkeit, Autorinnen und Autoren mit noch nicht veröffentlichten Manuskripten einzuladen; aber am Schluss haben wir uns dafür entschieden, nur Texte zu präsentieren, die seit letztem Spätsommer erschienen sind. Da passiert zurzeit enorm viel, es gibt viele begabte neue Schriftstellerinnen und Schriftsteller in der Schweiz.

Literaturtage als Nachwuchsförderung?
Zumindest liefern wir im Rahmen unserer Möglichkeiten eine verstärkte Basis. Ein erster Schritt dahin ist, dass wir Debütanten eine eigene Rubrik geben, ein Schaufenster, das besondere Aufmerksamkeit erregen soll. Denn das ist die literarische Zukunft. Darüber hinaus unterstützen wir die Autoren auch hinter den Kulissen: Erfahrene Leute aus dem Literaturbetrieb helfen ihnen, Kontakte zu knüpfen, beraten sie, geben ihnen Feedback auf ihre Texte.

Sie schreiben im Programmheft von den Literaturtagen als «Impulszentrum» …
Dazu haben wir einen Thinktank ins Leben gerufen …

Einen Tank?
Die französische Übersetzung klingt charmanter: eine Art «groupe de réflexion». Entstanden ist die Idee aus der Feststellung, dass die Solothurner Literaturtage an sich schon eine grosse Kraft haben: mit dieser Konzentration von Autorinnen, Verlegern, Buchhändlerinnen, Kritikern und Leserinnen … Daraus entwickelte sich in der Kommission die Idee, dies für eine verstärkte literaturpolitische Ausrichtung zu nutzen.

Und die Gruppe ist schon am Denken?
Die fünfzehn Mitglieder haben sich schon mehrmals getroffen. Es handelt sich um zehn Autorinnen und Autoren aus allen Sprachregionen, dazu Vertreter der wichtigsten Branchenverbände. Die Schreibenden sind in der klaren Überzahl – es ist ein Autorenthinktank, wo es um ihre Anliegen geht, die sie auch selbst formulieren. Sie sassen an mehreren Abenden in unserem Sitzungsraum, haben ziemlich heftig diskutiert und viele Ideen entwickelt. Das Ganze soll in eine klare Richtung münden, indem sie im Rahmen der Literaturtage am Freitag öffentlich zu Wort kommen und so ihre Stimme hörbar erheben können.

Daraus soll am Schlusstag eine «Solothurner Verlautbarung» werden.
Das ist das Ziel. In Solothurn werden die Diskussionen öffentlich und auch wieder in geschlossenen Runden weitergeführt, und am Sonntag münden die Gespräche in eine schriftlich ausformulierte «Verlautbarung», die hoffentlich den Diskussionen um Autoren- und Literaturförderung und die Stellung der Schreibenden hierzulande einen kräftigen Schub gibt.

Bis vor wenigen Jahren erschöpfte sich der Diskurs ja hauptsächlich in der Suche nach dem Superstar, der eine Debatte auslöst …
Ich gehe mehr davon aus, dass es diese Reflexion bereits gibt; es gibt diese Autoren, die sich kritisch mit dem Land und der Welt auseinandersetzen. Aber es gibt auch eine Vereinzelung – und das schwächt die Diskussionskultur. Wenn Kulturpolitik gemacht wird, sind es oft immer wieder die Gleichen, die sich für eine Sache starkmachen. Dabei betreffen diese Fragen alle Schreibenden – und nicht nur sie, sondern uns alle. Welche Rolle hat die Literatur in unserer Gesellschaft, welchen Platz geben wir ihr? Das geht über das Herumfeilen an einem Kulturförderungsartikel weit hinaus: ins Grundsätzliche. Dazu gehören auch Fragen zum Stand der Literaturkritik und zum Urheberrecht, das mit der Digitalisierung stark gefährdet ist. Dies sind branchenspezifische Themen, die aber auch für ein breites Publikum wichtig sind. Dasselbe gilt für neue Medien in der Kinder- und Jugendliteratur. Von diesen heftigen Veränderungen der letzten Jahre sind wir alle in der einen oder anderen Weise direkt betroffen.

Überhaupt: das Wort – und seine Rolle in der Gesellschaft …
Wenn man Zeitungen liest, gerade die Gratiszeitungen, oder Werbung … Da nimmt man als sprachlich sensibler Mensch so viele Unsorgfältigkeiten und Fehler wahr; man übertreibt nur wenig, wenn man darin eine rasant fortschreitende Sprachverwahrlosung sieht. Und die Menschen scheinen sich daran zu gewöhnen. Da ist es nur eine Frage der Zeit, dass das auch immer weniger bemerken. Warum das geschieht und warum jetzt, ist ein wichtiges Thema.

In der NZZ wurde vor einiger Zeit das Fazit gezogen: Die neue deutschsprachige Literatur glänzt mit handwerklichem Geschick und flüssigen Texten – lässt aber Komplexität vermissen, Tiefe, die ja oft mit Widerspenstigkeit verbunden ist …
Ja, diese Tendenz gibt es. Immerhin gibt es im Grenzbereich zwischen Lyrik und Prosa gute Gegenbeispiele. Solchen Versuchen, die gegen den Mainstream verlaufen, geben wir in unserem «Poesiesalon» Raum. Poesie ist ja weit mehr als Lyrik, und so freuen wir uns auf Autoren, die sich an der Sprache reiben, sie erforschen und ihre Grenzen ausloten. Wir haben also bewusst einige Pflöcke für eine weniger stromlinienförmige Literatur eingeschlagen. Wir präsentieren ein breit gefächertes Programm, eher etwas für Feinschmecker – und freuen uns, wenn sich die Besucher auch für Autoren begeistern, die sie vorher gar nicht oder kaum kannten.

Lennart Laberenz kommt in seinem Streifzug durch Erstlingsprosa auf ein ernüchterndes Fazit. Was fällt Ihnen an der neueren Schweizer Literatur auf?
Zunächst: extreme Unterscheide, die man nicht auf einen Nenner bringen kann. Wie gesagt gibt es heute eine erstaunliche Anzahl von neuen, jungen Autorinnen und Autoren. Da ist in den letzten fünf Jahren viel passiert. In den neunziger Jahren machten die Netzautoren auf sich aufmerksam. Die Autoren der jetzigen jungen Generation sind aber meist nicht mehr in Gruppen organisiert. Viele arbeiten zudem in mehreren Kunstgebieten gleichzeitig, sind zugleich Performer, Musikerinnen, Autoren. Auffällig ist auch, dass eine wachsende Zahl von älteren Frauen und Männern einen Erstling publiziert. Wir haben es vermehrt mit Debütantinnen und Debütanten zu tun, die schon eine lange Biografie hinter sich haben.

Wie äussert sich das?
Oftmals wird hier Biografie zum Stoff, der in Retrospektiven verarbeitet wird, in Kindheits- und Jugenderinnerungen – aber nicht nur! Hier gibt es oft die mutigsten Spracherkunder.

Und die Dringlichkeit?
Ein grosses Wort … Dringlichkeit ist wichtig – sonst soll man nicht schreiben. Was ich persönlich – das ist mein Interesse und Temperament – in vielen Texten vermisse: mehr Ernsthaftigkeit. Genauer: Komplexität, gerade auch in der Verknüpfung von Form und Inhalt. Wie das zum Beispiel bei Christian Haller, Bruno Steiger oder Urs Faes zu finden ist. Bei jüngeren Autoren wiederum ist oft handwerkliches Geschick zu sehen, viel Talent. Dass aber versucht wird, die Gegenwart oder historische Situationen und Gegebenheiten zu thematisieren und zu durchleuchten, kommt eher selten vor – anders als in der Literatur in unseren Nachbarländern.

Grosse Erwartungen erleichtern es den Schreibenden nicht gerade, grosse Ideen zu entfalten …
Warum nicht? In diesem Spannungsfeld findet Literatur statt – zwischen den Schatten der Monumente und beschleunigter Vermarktungsindustrie. Schlimmstenfalls wird das Buch zum Produkt, das man gar nicht mehr öffnen muss, weil alles schon zusammengefasst ist. Auch hier gibts eine Tendenz zur Oberflächlichkeit. Wir wollen dem gegensteuern: Die Solothurner Literaturtage sind ein Fest für ein grosses Publikum – aber auch ein wenig Sand im Getriebe.

35. Solothurner Literaturtage

Mit Spaziergängen und Poesiesalon

«Débuts. Anfänge. Inizi. Entschattats»: Nachdem Vrony Jaeggi rund 35 Jahre lang, seit der Gründung im Jahr 1978, die Solothurner Literaturtage geleitet hat, übernimmt nun die 44-jährige Zürcher Germanistin Bettina Spoerri die Hauptverantwortung. Spoerri hat sich im Lauf ihrer bisherigen Laufbahn als vielfältige Kulturvermittlerin gezeigt: als Literatur- und Filmkritikerin (auch für die WOZ), als Programmverantwortliche von Literaturpodien, Kuratorin von thematischen Ausstellungen sowie als Mitherausgeberin und Koautorin diverser Publikationen wie zuletzt «Diskurse in die Weite. Kosmopolitische Räume in den Literaturen der Schweiz».

Neben diversen Zugängen zum Thema des «Anfangens» wartet die erste Ausgabe unter Spoerris Federführung auch mit literarischen Spaziergängen auf und öffnet einen «Poesiesalon» für experimentelle Literatur. Akzentuiert wird auch die Mehrsprachigkeit: Lesungen von AutorInnen aus der französischen und italienischen Schweiz werden simultan auf Deutsch übersetzt – und umgekehrt; im Programmheft werden die AutorInnen neu in zwei Landessprachen präsentiert.

Drei grosse Figuren erhalten eine besondere Würdigung: «Meienberg revisited» geht zwanzig Jahre nach dessen Tod den Einflüssen des Journalisten Niklaus Meienberg nach; KollegInnen erweisen dem im Januar verstorbenen Jörg Steiner eine Hommage; und die weniger bekannten literarischen Seiten Mani Matters werden beleuchtet.

Adrian Riklin

Solothurner Literaturtage in: Solothurn, Landhaus und zahlreiche weitere Orte, Freitag bis Sonntag, 10. bis 12. Mai 2013. Programm: www.literatur.ch