Automatischer Informationsaustausch: Der Staat kehrt zurück

Nr. 18 –

In Paris, Rom, Berlin und anderen europäischen Hauptstädten wird die Agenda derzeit von einem zentralen Problem beherrscht: Die Staaten haben Mühe, ihre Steuern einzutreiben – zu einer Zeit, in der sie tief in den Schulden stecken. Ihr Unmut auf das Steuerparadies Schweiz entlädt sich zurzeit in einem Hagel der Kritik: Bern soll dem Bankgeheimnis den Todesstoss versetzen, ertönt es tagtäglich.

Die Staaten haben sich ihre Schwäche allerdings auch selber zuzuschreiben. In der Nachkriegszeit war die industrialisierte Welt von einem staatlich gelenkten Wirtschaftsaufschwung geprägt, den «Trente Glorieuses». Dieser fand Mitte der siebziger Jahre ein jähes Ende, worauf der Aufstieg des Wirtschaftsliberalismus folgte. Der Ruf wurde laut, die Schranken zwischen den Staaten niederzureissen. Insbesondere jene für das Kapital – jene für den Handel waren bereits weitgehend gefallen. EU-Kommissionspräsident Jacques Delors folgte dem Ruf 1986 mit der Einheitlichen Europäischen Akte; die Welt zog mit. So wurde der Markt aus seinem nationalstaatlichen Korsett befreit.

Der Staat hat sich damit selbst entmachtet. Der ehemalige französische Präsident François Mitterrand hatte dies bereits 1981 erfahren, als er sich nach sozialen Reformen einem dramatischen Kapitalabfluss gegenübersah – worauf er den «tournant de la rigueur» verkündete, die Kehrtwende. Die Entmachtung war gewollt. Friedrich Hayek, der Architekt der wirtschaftsliberalen Revolution, hegte eine tiefe Abneigung gegenüber dem Staat. Diese gründet im Liberalismus des 19. Jahrhunderts, als Europa von absolutistischen Staaten regiert war. In Hayeks Augen waren Demokratien nicht besser: Die Tyrannei der Mehrheit sei oft gar schlimmer als jene der Autokraten.

Der Freiheit der BürgerInnen, sich selbst zu regieren, stellte Hayek die Freiheitsrechte der Individuen gegenüber, die diese vor Übergriffen des Staates schützen. Im Blick hatte Hayek die Freiheit der EigentümerInnen: Die Welt sollte durch deren Geschäfte ihre Form erhalten.

Das Kapital floss nun dorthin, wo es die höchste Rendite erzielte – dank der Personenfreizügigkeit sollte es überall genug Arbeitskräfte vorfinden. Die Staaten begannen, um das Kapital wettzueifern. Dies raubte ihnen auch die Macht, ihre Steuern einzutreiben. Weltweit wurden die Spitzensteuersätze für Konzerne und Reiche schrittweise gesenkt; die Staaten richteten Sondersteuerregime ein, mit denen sie multinationale Konzerne dazu anregten, im Ausland erzielte Gewinne bei ihnen zu versteuern; zudem begannen sie, mit Pauschalsteuern reiche Ausländer anzulocken.

Die staatliche Beihilfe zur Steuerhinterziehung durch Bankgeheimnisse und Trust-Gesetze ist lediglich der zynischste Auswuchs dieser Politik. Die Schweiz steht in fast all diesen Disziplinen an der Spitze.

Die Wirtschaftskrise hat die Welt aus ihrem Rausch auf den Boden der Realität zurückgeholt. Die Staaten brauchen Geld. Nun versuchen sie, den Markt wieder ins Korsett zu zwingen. Die G20-Staaten haben kürzlich auf ihrem Gipfel in Anwesenheit von Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf den automatischen Informationsaustausch (AIA) von Bankdaten zum künftigen Standard erklärt. Die EU verlangt von der Schweiz dasselbe.

Die Stossrichtung stimmt, allerdings lauern auch Gefahren. Im derzeitigen Machtpoker sind sämtliche Regierungen darauf erpicht, fremde Steueroasen auszutrocknen, ohne selbst Zugeständnisse machen zu müssen. Dabei drohen insbesondere schwache Staaten des Südens unterzugehen. Sie hätten das Geld besonders nötig. Ihre Stimme zählt jedoch kaum. Zudem drohen die Staaten übers Ziel hinauszuschiessen: Hayek hat versucht, im Namen der individuellen Freiheitsrechte die Demokratie zu untergraben. Nun sollte man aufpassen, nicht im Namen der Demokratie die Freiheitsrechte zu opfern. Nicht alle Daten gehen den Staat etwas an.

Die Schweiz wird den AIA übernehmen müssen: Seit am Wochenende mit Österreich ihr letzter Verbündeter eingelenkt hat, ist auch der letzte Zweifel ausgeräumt. Nun gilt es, den AIA mitzugestalten.