Care-Arbeit in der Schweiz: Ausgewandert, enttäuscht und ausgenutzt

Nr. 18 –

Aus Ost- und Südeuropa kommen sie in die Schweiz. Hier betreuen Care-MigrantInnen Pflegebedürftige und Kinder. An Arbeitsplätzen fehlt es nicht, dafür häufig an Wertschätzung, wie die Geschichte einer 22-jährigen Spanierin zeigt.

Für zwölfeinhalb Arbeitstage gerade noch 32.55 Franken erhalten: Evelia Cervantes hat in der Zürcher Landschaft nicht die besten Erfahrungen gemacht.

Evelia Cervantes* schämt sich für diese Geschichte, dennoch will sie sie erzählen. Sie fühlt sich ausgenutzt. Es ist die Geschichte einer jungen Spanierin, die voller Hoffnung in die Schweiz reist, um hier zu arbeiten. Statt auf das «schöne Leben» trifft sie auf Menschen, die sie «lieber nicht getroffen hätte», und erlebt eine Enttäuschung nach der anderen.

Cervantes ist Teil der viel zitierten «Zuwanderungswelle», die der Bundesrat bremsen möchte, der deshalb letzte Woche die Ventilklausel anrief. Ihre Geschichte beginnt in einer kleinen Stadt, etwas mehr als 10 000 EinwohnerInnen, eine halbe Autostunde von Barcelona entfernt. Hier wächst Cervantes mit ihrer Schwester und ihrer Mutter auf. Mit fünfzehn hütet sie die Kinder von Bekannten, um ihr Taschengeld aufzubessern. Auch während ihres Studiums in Barcelona verdient sie so ihr Geld. Nach der universitären Ausbildung zur Privatdetektivin möchte sie zur Polizei. Doch als sie die Prüfung nicht besteht, steht sie ohne Job da.

Ihr Freund und ehemaliger Mitstudent, dem es gleich ergeht, findet eine Lösung: Er zieht zu seinen Grosseltern nach Zürich und beginnt ein Jurastudium. Cervantes möchte ihrem Freund nachfolgen. In der Schweiz soll der Lebensstandard hoch sein, alle Menschen seien da zufrieden, glaubt Cervantes. Auf einer Internetplattform sucht sie nach einer Au-pair-Stelle. Dort stösst sie auf eine Anzeige von Paula und Mathias Schmid*. Sie Primarschullehrerin, er Fahrlehrer. Das Paar hat zwei Söhne, beide noch unter zwei Jahre alt. Familie Schmid wohnt in einem Reihenhaus mit Garten im Zürcher Limmattal.

Cervantes reist ein erstes Mal in die Schweiz, um die Familie kennenzulernen. Die Schmids versprechen ihr 1500 Franken monatlich plus die Kosten für die Sprachschule. Dafür soll sie sich um die beiden Kinder kümmern. «Ich müsse aber nicht das Hausmädchen spielen und putzen, haben sie mir gesagt», erzählt Cervantes. Für sie geht ein Traum in Erfüllung. Sie würde Deutsch lernen, studieren und mit ihrem Freund in der Schweiz leben. Das war um Weihnachten 2011. Als sie ein halbes Jahr später voller Hoffnung in die Schweiz reist, zerbricht ihr Traum bald.

Fünf Franken in der Stunde

Evelia Cervantes ist eine unter vielen. Im vergangenen Jahr sind gemäss Bundesamt für Statistik (BfS) 4511 Menschen aus Spanien in die Schweiz eingewandert. Darunter viele Jugendliche, von denen jeder und jede Zweite in Spanien keine Arbeit findet. Mit über 27 Prozent Arbeitslosigkeit ist Spanien aktuell auf einem Rekordhoch. Eine Schweizer Arbeitsbewilligung erhält, wer einen Job hat. Dessen war sich auch Evelia Cervantes bewusst, als sie im letzten Juli dieses Papier, welches der WOZ vorliegt, vor sich sah: «Vertrag von Haushalt- und Kinderbetreuungs-Praktikum». 1190 Franken monatlich, davon werden pauschal 390 Franken für alle «Mahlzeiten und Zwischenmahlzeiten» abgezogen. Es bleiben noch 800 Franken Bruttolohn – weit weniger, als Paula und Mathias Schmid an Weihnachten versprochen hatten.

Cervantes unterschreibt dennoch: «Anders hätte ich die Aufenthaltsbewilligung nicht bekommen.» Als sie diese auf der Gemeinde beantragt, belächelt sie der Gemeindemitarbeiter. Wie sie denn von diesem Lohn leben wolle, fragt er. Sie schlage sich schon durch, schliesslich könne sie bei ihrem Freund wohnen. Die Arbeit bei der Familie Schmid wird für sie bald unerträglich. Für fünf Franken in der Stunde hütet sie die Kinder und putzt die Wohnung. «Das hätte mir nichts ausgemacht», beteuert Cervantes, «aber ich fühlte mich erniedrigt. Die ganze Zeit stand entweder Mathias oder Paula neben mir und beobachtete mich. Die Kinder mochten mich offenbar nicht. Einer der Buben schlug und biss mich ständig. Dabei mag ich Kinder doch so gerne.» Die Zeit, in der die Kinder jeweils schlafen und sie nichts mehr zu putzen hat, wird ihr als unbezahlter Urlaub abgezogen. So blieben am Ende des ersten Monats noch 500 Franken. Das ist unter dem üblichen Au-pair-Lohn von 800 Franken netto bei maximal dreissig wöchentlichen Arbeitsstunden und noch viel weiter unter den 2912 Franken, die in der Verordnung über den Normalarbeitsvertrag in der Hauswirtschaft als Mindestlohn festgehalten sind.

«Ausbeuterische Verhältnisse»

Christine Michel, die zuständige Unia-Gewerkschafterin, sagt: «Hier scheint es sich um eine klare Umgehung eines ordentlichen Vertragsverhältnisses zu handeln, indem ein Praktikumsvertrag für eine übliche Arbeitsleistung abgeschlossen wird.» Überrascht ist sie nicht: «Ausbeuterische Verhältnisse in der sogenannten Care-Migration, wo eine Migrantin im Privathaushalt für Betreuungsaufgaben angestellt wird, sind leider an der Tagesordnung.» Dies bestätigt auch Sarah Schilliger, Soziologin an der Universität Basel: «Zwar wird Au-pair gemeinhin als Kulturaustausch verstanden. Doch faktisch werden die jungen Frauen häufig als flexible Hausarbeiterinnen rekrutiert.» Die Nachfrage nach solchen Arbeitskräften ist gross. Gemäss BfS arbeiteten 2012 rund 59 000 Personen in der Hauswirtschaft. Schilliger ist überzeugt, dass die tatsächliche Zahl deutlich höher liegt: «Die Dunkelziffer ist enorm, weil viele Arbeitsverhältnisse nicht gemeldet werden. Häufig sind dies auch Sans-Papiers, die zu prekären Arbeitsbedingungen arbeiten müssen.»

Die Hauswirtschaft ist nicht der einzige wirtschaftliche Sektor der Schweiz mit grosser Nachfrage nach Arbeitskräften. Eine von Travail.Suisse in Auftrag gegebene Studie zeigt, dass der Schweiz im Jahr 2030 rund 400 000 Arbeitskräfte fehlen werden. Diese Nachfrage könne nur durch Zuwanderung gedeckt werden, sagt Denis Torche, Leiter der Migrationspolitik bei Travail.Suisse.

Deshalb sei es auch das falsche Zeichen, dass der Bundesrat mit der Ventilklausel die Zuwanderung aus der Europäischen Union bremsen möchte. Aber es sei letztlich «viel Lärm um nichts», da die Dauer der Ventilklausel auf zwölf Monate beschränkt ist. Dies sagt auch Céline Kolprath vom Bundesamt für Migration: «Benötigte Arbeitskräfte können weiterhin rekrutiert werden.»

Das werden sie auch: MigrantInnen seien beliebte, weil billige Arbeitskräfte, sagt Schilliger. Für die prekären Arbeitsverhältnisse seien aber nicht bloss die Familien verantwortlich: «Es fehlt in der Schweiz an staatlicher Unterstützung und an angemessenen und bezahlbaren Betreuungsverhältnissen. Immer mehr Familien organisieren sich deshalb ein privates Arrangement mit einer Migrantin.»

Warum Paula und Mathias Schmid ein Au-pair gesucht und Cervantes ausgenutzt haben, erfährt die WOZ nicht. Die beiden sind trotz mehrmaliger Versuche über eine Woche lang nicht erreichbar.

Von einer Enttäuschung in die andere

Auch Evelia Cervantes kann diese Fragen nicht beantworten. Als sie nach knapp zwei Monaten kündigt, wehrt sie sich nicht dagegen, dass ihr Paula und Mathias Schmid noch alles Mögliche abziehen: die Hälfte des Geldes für den Deutschkurs und unbezahlten Urlaub. So erhält Cervantes für zwölfeinhalb geleistete Arbeitstage noch gerade mal 32.35 Franken. Cervantes möchte bloss weg aus der Familie und beginnt, als Serviceangestellte in einem Café in Winterthur zu arbeiten. Hier erlebt sie die nächste Enttäuschung. Ihr Chef befiehlt ihr, ein grösseres Dekolleté zu tragen: «Das verkauft sich besser.» An gewissen Tagen arbeitet Cervantes über zwölf Stunden ohne Pause. Ihr Vorgesetzter setzt sie unter Druck, beschimpft sie vor den Gästen. Den Lohn bezahlt er jeweils zu spät. Sieben Monate lang erträgt sie es, dann kündigt sie fristlos und verzichtet auf einen Teil ihres Lohns. Sie möchte nie mehr in dieses Café und fühlt sich von ihrem Chef bedroht. «Ich hoffe, dass ich ihm nie mehr im Leben begegne. Ich fürchte mich sehr vor ihm», erzählt Cervantes.

«Ich glaube, ich habe nicht so viel Glück gehabt», kommentiert Cervantes ihre bisherige Zeit in der Schweiz. Sie hat sich das Leben hier ganz anders vorgestellt. «Eigentlich wollte ich doch nur meine Arbeit gut machen», sagt sie. Und fügt an: «Ich bin auch ein bisschen selbst schuld.» Sie hätte die Au-pair-Familie vielleicht besser aussuchen müssen: «Aber ich habe nicht mit so etwas gerechnet.»

Mittlerweile hat Evelia Cervantes eine neue Anstellung als Teilzeitverkäuferin bei der Kleiderkette Zara: «Ich bin glücklich, dass ich endlich zu geregelten Zeiten zu einem guten Lohn arbeiten kann.» Evelia Cervantes verdient maximal 2500 Franken brutto im Monat und arbeitet dafür sechzig Prozent.

* Namen geändert.

Lohndumping : «Machthierarchien werden verschleiert»

In kaum einer anderen Branche ist das Ausmass von Lohndumping so gross wie in der Hauswirtschaft. Die Arbeitsverhältnisse seien in den Familien nur schwer zu kontrollieren, sagt Sarah Schilliger. Gemäss der Soziologin der Universität Basel liegt das Problem vor allem in der unklaren Abgrenzung des Arbeitsverhältnisses. Häufig werde eine Hausangestellte, die rund um die Uhr Pflegebedürftige betreut, als «Quasifamilienmitglied» betrachtet. «So werden das Arbeitsverhältnis unkenntlich gemacht und die Machthierarchien verschleiert», sagt Schilliger.

Weil immer wieder orts- und branchenübliche Löhne wiederholt in missbräuchlicher Weise unterboten wurden, hat der Bundesrat 2010 einen verbindlichen Normalarbeitsvertrag (NAV) beschlossen, der 2011 in Kraft trat. Er enthält unter anderem einen Mindestlohn: 18.20 Franken Stundenlohn für ungelernte Arbeitskräfte ohne Berufserfahrung. Bei mindestens vier Jahren Berufserfahrung liegt der Lohn bei 20 Franken beziehungsweise bei 22 mit einer beruflichen Grundbildung und einem Eidgenössischen Fähigkeitszeugnis.

Der Bundesrat führte damit zum ersten und bisher einzigen Mal seit der Einführung der flankierenden Massnahmen einen gesetzlichen Mindestlohn ein. Der NAV für die Hauswirtschaft bleibt noch bis Ende 2013 bestehen. Dann wird er neu ausgehandelt. Christine Michel, zuständige Unia-Gewerkschafterin, findet es «zentral, dass er verlängert wird». Missbräuche gebe es weiterhin, aber der NAV ermögliche es, dagegen vorzugehen.