Ein Granatsplitter: Nichts anfangen – damit alles anfangen kann

Nr. 18 –

Hat je die Sprache angefangen? Gibt es überhaupt einen Anfang – und auch ein Ende? Oder handelt es sich bei all dem nicht vielmehr um einen Sprung – Unterbrechungen einer Folge? Ein Versuch.

Friederike Kretzen im Café Huguenin in Basel: «Hier hat ein Sommer angefangen wiederzukommen, der dann ein Buch wurde.» Nachzulesen ist dies in Kretzens jüngstem Roman, «Natascha, Véronique und Paul», Kapitel 2, Seite 12. Foto: Ursula Häne

«Ich liebe die alten Fragen», sagt Hamm in Samuel Becketts «Endspiel». Solch eine Liebe ist kein schlechter Anfang. Denn es kann gut sein, dass Anfänge ganz woanders zu finden sind, als wir annehmen. Und dass sie, um anzufangen, anders anfangen, als wir es uns vornehmen können. Sie geschehen nämlich, treten ein, ereignen sich.

Hüten wir uns jedenfalls davor anzunehmen, dass die Schwierigkeit des Anfangs eine der Leere, des Nichtvorhandenseins wäre. Es ist vielmehr die des Einsetzens, des Sprungs, der ungewissen Lücke zwischen Abgrund und Unglück. Wo und wie können wir in all dem, was schon war und was nicht aufgehört hat zu sein, anfangen? Was füllt uns vor jedem Schreiben die Seiten und lässt uns, kaum wollen wir anheben zu erzählen, Teil einer alten Erzählung sein, die vielmehr uns erzählt, als dass wir ihr etwas anderes hinzufügen könnten? Bleiben wir also noch ein bisschen bei den alten Fragen.

Hat je die Sprache angefangen? Hat Sprache Anfang und Ende? Folglich auch eine Mitte? Was fängt an, wenn wir schreiben: wir, ein Text, ein Ton, die Vorstellung einer Form? Haben Anfänge etwas mit Liebe zu tun? Vielleicht mit dem Unsagbaren, also mit dem an der Liebe, was uns die Sprache verschlägt? Oder ist das die Liebe zu einer Sprache, die uns verschlagen wurde? Wer hätte das tun sollen? Die wir irgendwo verloren, aufgegeben haben? Hat der Anfang etwa mit Verstummen zu tun?

Auf die Welt kommen und vergessen

Jeder Anfang ist ein Sprung, ein Wagnis, ein Bruch – eine Unterbrechung der Folge. Und jeder Anfang bedarf – ähnlich wie die Liebe – einer radikalen Übersetzung. Zum Beispiel der, etwas, das kein Wort war, in ein Wort zu übersetzen.

Eine Legende aus dem Umfeld der Kabbala erzählt, dass das Kind bis zu seiner Geburt alles Wissen der Welt besitzt. Doch sobald es aus dem Mutterleib kommt, geht der Engel des Lebens vorbei, gibt ihm einen mächtigen Schlag auf die Lippen, das Kind japst auf, brüllt, erhebt seine Stimme – und im gleichen Moment hat es alles, was es wusste, vergessen. Als Zeichen dieses Geschehens tragen wir alle das senkrechte Grübchen zwischen Mund und Nase.

An der Grenze der Unsagbarkeit

Der erste Atem verbindet uns in dieser Legende mit dem Vergessen. Jeder Atemzug hätte somit Teil an einem Vergessenen, das vor uns lag und das wir in unserem Atem bestätigen, beleben und weiter vergessen.

Da also können wir anfangen, wo ein anderer Anfang nicht mehr erinnerbar ist? Wo er uns verschlagen wurde, wie es die unsagbare Liebe vermag, die uns die Sprache verschlägt. Und ist das nicht, was uns in Atem hält?

Der Anfang liegt vor dem Anfang, sagte Jacques Derrida. Das also lässt uns aufatmen. Sonst wäre von Anfang an kein anderes, kein weiteres Anfangen mehr möglich. Dies ist Bedingung der Möglichkeit anzufangen. Ob wir wollen oder nicht, sind wir ErbInnen – und brauchen die Vorstellung, auch wir könnten anfangen. Nochmals und wieder. Anfangen also, wie um so zu tun, als sagten wir zu uns, als könnten wir zu uns, in unserer eigenen Stimme sagen: Fang an.

Anders als Köln, das im Zweiten Weltkrieg ungefähr vom ersten bis zum letzten Tag des Kriegs bombardiert worden ist, wurde Leverkusen, zehn Kilometer entfernt, mit seinem Bayer-Werk so gut wie nicht angegriffen. Nur die letzten Wochen im Frühjahr 1945 lagen die Amerikaner auf der anderen Rheinseite und beschossen die Stadt mit Granaten. Bei einem Alarm schaffte es meine Mutter nicht mehr rechtzeitig in den Bunker und lag davor in einer Mulde, wo ein Granatsplitter ihren Arm streifte und direkt unter ihrem Herzen stecken blieb. Meine Mutter, die damals noch nicht meine Mutter war, konnte nicht operiert werden, musste ruhen und hatte Glück. Der Splitter kapselte sich bei ihr ein. Zehn Jahre später lag dann ich unter ihrem Herzen und teilte mir mit diesem Splitter einhellig – fast möchte ich sagen solidarisch – den Platz. Zum Abschied sagte ich ihm, der vor mir war und blieb (und ich sagte es zum ersten Mal in meinem Leben): Wir bleiben in Verbindung. So hielten wir es.

Der eingekapselte Granatsplitter, den meine Mutter unter ihrem Herzen trug, war für mich eine Stelle an meiner Mutter, wo sie wie noch einmal meine Mutter geworden war – lange vor ihrem Mutterwerden mit mir. Denn beinahe hätte es vor meinem Anfang keinen Anfang gegeben, sondern ein Ende. Der Anfang vor meinem Anfang war also ein Ende, das dann doch keines war. Als mögliches Ende steckte es ganz unmittelbar im Körper meiner Mutter, regte sich nicht, erinnerte sich nur und auch mich, dass ein Anfang immer auch die Möglichkeit keines Anfangs bedeutet. Da aber, an dieser Stelle, wo es schwindlig wird, unwägbar, ob etwas eintreten wird oder nicht, ist der Moment, wo etwas anfangen kann. Und zwar etwas, das seinen Anfang vorher genommen hat.

Am linken Unterarm meiner Mutter hatte die Streifung des Splitters eine glatte, längliche Narbe hinterlassen, wo die Haut ganz besonders weich war. Das war die Stelle am Körper meiner Mutter, die ich sehr gerne berührt habe, über die ich in Kontakt treten konnte mit einem Geschehen, dem ich auf unsagbare Weise zugehörte.

Da, wo es in gewisser Weise seinem eigenen Fehlen begegnet, setzt Schreiben ein, da, wo es für nichts anderes mehr stehen oder einspringen muss. Das ist ein Schreiben, das dann nichts kompensiert, sondern an der Grenze der Unsagbarkeit seine ihm eigene Sagbarkeit erfindet.

Da setzt es ein, da hat es sich die ihm eigene Stelle des Sagens geschaffen, die es vorher nicht gab. Und das ist die Möglichkeit von Literatur, zu sagen, was es gibt, was fehlt. «Schreiben für ein kleines Volk, das fehlt», heisst es in einem Text von Gilles Deleuze, und wenn dies nicht die zauberhafteste Einladung zur Imagination und Anrufung eines kleinen Volks ist, das uns in uns fehlt, dann sieht es nicht gut aus mit uns, den Wünschen und den Anfängen, die der Erfindung so sehr bedürfen wie des fehlenden kleinen Volks der AnfängerInnen.

Sich verlieren und vorfinden

Vor 35 Jahren war ich einmal in Indien. Das hat sich mir sehr eingeprägt. Eine Erfahrung, die mich in ihrer erschütternden Wirkung nie mehr losgelassen hat. Ich war damals zwanzig, hatte gerade angefangen, Soziologie zu studieren, und mich begleitete ein Buch von Henri Lefebvre: «Das Alltagsleben in der modernen Welt», eine auf aberwitzige Weise passende Lektüre, an der ich mich festhielt.

Immer wieder in all den Jahren, die seitdem vergangen sind, erhob sich in mir regelmässig eine Sehnsucht, die ich Indien nannte. Ich hütete mich allerdings davor, nochmals hinzufahren. Bis sich wie beiläufig vor kurzem eine Möglichkeit ergab, nochmals dorthin mitzufahren. Ich sagte zu, blieb aber bis zum letzten Moment der Abreise skeptisch, ob ich reisen würde. So, wie bei meiner ersten Reise, hatte ich auch jetzt wieder das Gefühl, eher mitzufahren als hinzufahren. Dort zu sein, half mir nicht, daran zu glauben, dort zu sein.

Das fing erst an, als ich drei Wochen später wieder zurück war. Was dann passierte, unerwartet, war eine langsame, langsame Ahnung, die sich in mir ausbreitete, dass ich in Indien etwas angetroffen hatte, was ich war, und was sich dort über dreissig Jahre aufgehalten hatte. Wie wenn keine Zeit vergangen wäre, wie wenn dazwischen nicht all die vielen Abschiede und Veränderungen gewesen wären, sondern ein Bleiben, etwas, das sich nicht verloren hatte. Jedenfalls fand ich etwas von mir dort vor – und damit die Erkenntnis, dass sich in Indien nichts verliert.

Vielleicht ist Jean-Luc Godard ja ein Inder, wenn er sagt: Ändere nichts, damit alles sich ändern kann. Auf den Anfang bezogen würde das heissen: Fange nichts an, damit alles anfangen kann.

Schon bei meinem jüngsten Buch hatte ich die vage Idee, dass ich sehr gerne einmal etwas zu den Hippies schreiben möchte. Zugegeben, Hippies sind unerträglich, spiessig, kleingeistig, viel weniger chaotisch, als sie vorgeben zu sein, schlampig, gläubig. Trotzdem, ihr leicht karnevalesker Geist, ihre kleinmütige Anarchie, das Blumige an ihnen, ihr Flattergeist und ihre ganze Vagheit – manchmal glauben sie, IndianerInnen zu sein oder sonst ein Volk, das es nicht mehr gibt –, irgendetwas an diesem Durcheinander ist mir unverzichtbar. Vielleicht, wie Thomas Pynchon sagt, sind sie kleine Epiphanien aus Licht.

Ich weiss noch nicht zu sagen, was mich an ihnen nicht loslässt. Sind sie BotschafterInnen des kleinen Volks, das fehlt, von dem Deleuze nicht aufhört zu sprechen, wenn er vom Schreiben, von der Literatur spricht?

Flucht oder Seelenwanderung

Ich habe einen alten Freund aus der Zeit, als ich Soziologie studierte. Auch er ist Soziologe. Seit einiger Zeit tausche ich mich mit ihm immer wieder wegen der Hippies aus, wir können uns beide trotz allem ihres Charmes nicht erwehren. Im Zusammenhang mit meiner Reise und den vielen nach Indien ausgewanderten und dort abhandengekommenen Hippies fiel mir ein junger Soziologiedozent ein, bei dem ich am Anfang meines Studiums Anarchismusseminare besucht habe. Schnell waren seine Studierenden eine verschworene Gemeinschaft, und einmal sind wir im Zusammenhang mit der Erforschung von Bürgerinitiativen auf den Bauplatz von Wyhl bei Freiburg im Breisgau gefahren, wo der Bau eines AKWs erfolgreich hat verhindert werden können.

Wir haben dort ein paar Tage gezeltet, haben mit AktivistInnen gesprochen und sind dann wieder zurückgefahren. Als ich ihm kurz darauf von meinen Indienplänen erzählte, war er begeistert und wäre am liebsten gleich mitgefahren. Nach meiner Rückkehr damals war ich eine Weile verwirrt, ging kaum an die Uni, brauchte Zeit, um mich wieder neu zu orientieren. Einmal traf ich ihn noch, und er erzählte mir freudestrahlend, dass nun auch er nach Indien reisen wolle; es war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Er war dann einfach verschwunden. FreundInnen von ihm sagten, er sei von Frankfurt nach Nepal ausgewandert, wo er ein Lokal aufmachen wolle. Später hörte ich noch, dass er verschollen war.

Dieser Dozent fiel mir jetzt wieder ein. Ich rechnete ihn innerlich auch den Hippies zu, die, zumindest in meinem Kopf, eine immer grössere Gruppe zu werden beginnen. Und so fragte ich meinen Soziologenfreund, ob er nicht jemanden nach ihm fragen könne, der ihn gekannt hat. Ich schrieb ihm auch, was ich all die Jahre angenommen hatte, was mit ihm geschehen sei, auch wenn ich es nicht wirklich glauben wollte.

Was er herausfand, war, dass jener Dozent vor über zwanzig Jahren in Italien vermutlich an Krebs verstorben ist. In Italien hatte er sich Lotta continua angeschlossen und verschrieben. Aber vielleicht war auch das ein Gerücht, und dazwischen eine Fluchtbewegung, die sich als eine Art Seelenwanderung zwischen Indien und Italien, zwischen Lotta continua und den Hippies weiter fortsetzt. Noch immer auf der Suche nach einer Praxis des Engagements und des Traums von einer anderen Welt.

Nun, und hier fängt für mich die Geschichte an, an Abgründigkeit und Unwirklichkeit Tempo aufzunehmen. Möglich, dass irgendjemand, vielleicht auch ich, Nepal und Neapel verwechselt hat. Möglich auch, dass diese beiden Orte des Untergrunds viel miteinander zu tun haben. Jedenfalls, ob in Neapel in den Untergrund oder in Nepal in den Abgrund, ihr Zusammenhang bringt etwas von der Möglichkeit und Kraft zum Vorschein, die dieser Mann hatte, damals, als ich seine Seminare besuchte, und die mir in diesen Geschichten wie wiederzukommen scheint, zusammen mit Indien, Lotta continua, dem Untergrund und den Hippies. Kann sein, dass das einmal einen Anfang gibt.

Hier noch der mögliche Anfang einer Schreibbewegung, ein Anheben, ein erstes Spüren einer Bewegung, der Eindruck von etwas, dem ich folgen möchte:

Jetzt weiss ich, was mir vor bald 35 Jahren, meinem Wunsch entsprechend, vorausgegangen war nach Indien, was mich trug und hielt und zog – was nicht aufhörte, zu mir aus der Ferne zu sprechen, und was mich bat, in meinem unablässigen Kreisen um mich, ihm einen Ort zu lassen. Einen Ort in all der Zeit, in der ich beinahe vergass, in der ich nicht glaubte, ihm zuzugehören.

Friederike Kretzen (56), Schriftstellerin und Publizistin. Jüngste Veröffentlichungen: «Weisses Album» (2007), «Natascha, Véronique und Paul» (2012).