Hausbesetzung in Bern: Ein Neubeginn nach dem Drama

Nr. 18 –

Am Lagerweg 12 in der Berner Lorraine, wo bis vor kurzem noch bis zu hundert Frauen Sexarbeit leisteten, soll eine autonome Schule entstehen. Zurzeit hängt die Zukunft des Projekts von der Besitzerin der Liegenschaft ab.

Das Gebäude stand nur kurze Zeit leer: Am Samstag, dem 20. April 2013, besetzten AktivistInnen der Berner autonomen Schule «Denk:mal» das Haus am Lagerweg 12. Bis Ende Februar hat das Haus noch ganz anderen Zwecken gedient. Jetzt soll dort eine freie Schule entstehen.

Noch immer hängt ein Zettel an der Tür eines der kleinen, schäbigen Zimmer: «New beautiful black woman, 19 years old, best service» (neue, wunderschöne schwarze Frau, 19 Jahre alt, bester Service).

Drinnen steht ein Bett, über dem ein Spiegel angebracht ist. Eine Kaffeetasse und eine Rolle Toilettenpapier liegen auf dem Boden. Die Fenster sind mit gemusterter Folie überklebt. Im Badezimmer stehen Dosen mit Haargel, Haarwachs und ein Fläschchen Chlorhexidin für Mundspülungen aus der Apotheke im Quartier. Die «schöne schwarze Frau» jedoch lebt nicht mehr hier: Letztes Jahr entschied das Bundesgericht, ihre Arbeit verursache «ideelle Immissionen», die ein Wohnquartier wie die Lorraine nicht vertrage. Sie musste ihr Zimmer am Lagerweg 12 verlassen, wie die anderen Sexarbeiterinnen, die in den gut dreissig Zimmern am Lagerweg 12 lebten und arbeiteten.

Kostenlose Kurse

«Wir wollen kein Puff, haben aber eins gefunden» steht auf einem der Transparente, die die AktivistInnen an den Balkon gehängt haben. «Denk:mal» wurde vor bald acht Jahren von einem Kollektiv von ungefähr zwanzig Leuten gegründet. Die Idee: einen Ort zu schaffen, an dem Bildung «demokratisch, ohne Zwang und kostenlos» vermittelt wird. Die Schule bietet Kurse aller Art an: Spanisch, Yoga, Arabisch oder Deutsch. Über hundert SchülerInnen nutzen das Angebot, vor allem die Deutschkurse sind gefragt. Seit bald sechs Jahren ist «Denk:mal» an der Stauffacherstrasse zu Hause, wo nach einer Besetzung ein Zwischennutzungsvertrag zu einer symbolischen Miete von hundert Franken ausgehandelt werden konnte. Doch die städtische Liegenschaftsverwaltung hat den Vertrag auf Ende Juni gekündigt – das Gebäude soll in die zukünftige Wankdorf-City integriert werden. Deswegen braucht die Schule neue Räume.

«Mit diesen vielen kleinen Räumen bietet sich das Haus am Lagerweg förmlich an für unsere Aktivitäten», sagt ein Besetzer, der anonym bleiben möchte. «In den aktuellen Räumlichkeiten der autonomen Schule haben wir nur vier Zimmer, die mehrfach genutzt werden. Hier könnte in jedem Zimmer etwas anderes entstehen: eine Werkstatt, ein Computerpool, ein Büro – und natürlich Unterrichtsräume.»

Miete bar auf die Hand

Es ist kühl im Haus und dunkel, Strom gibt es keinen, auch Wasser nicht. Seit Tagen sind die BesetzerInnen am Aufräumen. Ein gemütliches Sitzungszimmer ist schon eingerichtet. Die Zimmer im ersten Stock sind bereits geräumt und geputzt. Doch noch immer schreien aus den Ecken und Winkeln die tragischen Geschichten, die sich hier abgespielt haben. Bis zu hundert Frauen arbeiteten hier, viele von ihnen wohnten auch da. Die Miete mussten sie jeweils samstags bar auf die Hand bezahlen. Wie viel es genau war, weiss Stéphanie Berger Krummacher von Xenia, der Berner Beratungsstelle für Frauen im Sexgewerbe, nicht. Nur so viel: «Es waren mehrere Hundert Franken pro Woche für ein kleines Zimmer.»

Die Frauen versuchten noch bis zur letzten Minute zu arbeiten und verliessen das Haus Ende Februar fluchtartig. Die AktivistInnen von «Denk:mal» fanden beim Aufräumen neben Kleidern und einer grossen Anzahl Schuhen auch Familienfotos. Die Fotos übergaben sie Xenia. Die Organisation reichte sie an die Frauen weiter, die noch auffindbar waren. Die anderen Fotos bleiben im Archiv der Beratungsstelle. Denn von vielen Frauen weiss auch Xenia nicht, wohin sie Ende Februar verschwanden: «Das ist das grosse Drama», sagt Berger Krummacher, «wir fürchten das Schlimmste: dass sie untergetaucht sind und alleine in einer privaten Wohnung und somit schutzlos arbeiten.»

Streit unter Besitzerinnen

Der Lagerweg 12 ist in den Berner Medien seit Jahren immer wieder Thema: Ende letzten Jahres wurde ein 45-jähriger Thailänder des Menschenhandels in sieben Fällen, der Widerhandlung gegen das Ausländergesetz sowie der Geldwäscherei für schuldig befunden. Ausserdem läuft ein Rechtsstreit zwischen der jetzigen Besitzerin der Liegenschaft, den FSZ Immobilien, und der vormaligen Besitzerin, der Firma Bellone. 2008 vereinbarten die beiden Firmen einen Kaufvertrag, doch nun ist nicht mehr klar, wer wem Geld schuldet. Die Besitzverhältnisse werden vor dem Handelsgericht geregelt. Es kann bis zu zwei Jahre dauern, bis die beiden Parteien zu einer Einigung kommen. Erst dann kann die FSZ mit ihren Ausbauplänen beginnen: Es sollen Wohnungen für Studierende entstehen.

Gemäss Handelsregister des Kantons Bern war Fredy Schönholzer, ein bekannter Immobilienhändler des Zürcher Rotlichtmilieus, bis 2009 Direktor der FSZ Immobilien und seither Mitglied mit Einzelunterschrift. Der Zürcher Rechtsanwalt Ivo Doswald, der die Liegenschaften im Auftrag der Firma FSZ Immobilien verwaltet, war für die WOZ trotz mehrmaliger Nachfrage nicht erreichbar. Gegenüber der Berner Zeitung «Der Bund» äusserte er sich vor wenigen Tagen relativ positiv über die Besetzung: Im Moment wolle er keinen Druck auf die BesetzerInnen ausüben, sagte er, und: «Ich habe Sympathien für das Anliegen dieser Leute.» Andererseits sei er nicht eben begeistert vom Vorgehen des Kollektivs: «Erst reingehen, dann fragen – das ist nicht die feine Art.»

Das Kollektiv betont jedoch, dass es die FSZ Immobilien mit einem eingeschriebenen Brief auf die bevorstehende Besetzung aufmerksam gemacht habe. Ziel der BesetzerInnen ist eine vertraglich geregelte Zwischennutzung. So könnten sie Ende Juni die Schule an der Stauffacherstrasse verlassen und in der Lorraine die Kurse weiterführen. Ob dies möglich ist, ist momentan noch offen.

Stadt zeigt sich offen

Die Stadt hält sich momentan aus der ganzen Geschichte heraus, da sich die Liegenschaft in Privatbesitz befindet. Weil sie in der Wohnzone liegt, bräuchte es für das Errichten einer Schule jedoch eine Sonderbewilligung, die die Besitzerin beim städtischen Bauinspektorat einreichen müsste. Stadtpräsident Alexander Tschäppät meint zur möglichen Zukunft des Lagerwegs 12 einzig: «Grundsätzlich muss der Besitzer der Liegenschaft entscheiden, wie er mit den Besetzern umgeht und was er macht. Sollte es aber sein, dass er das Gebäude für eine Schule nutzen will, dann wäre die Stadt diesem Plan gegenüber offen.» Ob eine temporäre Zwischennutzung auch ohne Sonderbewilligung möglich wäre, bleibt offen.

Im Quartier wird die Besetzung grösstenteils wohlwollend aufgenommen. Der Verein Läbigi Lorraine hat in einem Communiqué geschrieben: «Eine längerfristige Nutzung der Liegenschaft durch die denk:mal-AktivistInnen wäre für das ganze Lorrainequartier und für die nähere Nachbarschaft mehr als nur begrüssenswert.»

Auch die AnwohnerInnen hegen gegenüber den BesetzerInnen und ihrem Anliegen Sympathie. Bei einem Brunch am letzten Sonntag haben interessierte NachbarInnen das Gebäude besichtigt. «Ich hörte jeweils die ganze Nacht das Klingeln der Freier, die zu Besuch kamen», sagt ein unmittelbarer Anwohner. Manchmal hörte er auch die Stimmen der Frauen. Gelegentlich erblickte man sie auf dem Balkon beim Kochen, zwischendurch traf man sie in der Migros beim Einkaufen, doch meistens sassen sie unsichtbar hinter den heruntergelassenen Rollläden. Ein offenes Haus mit Gratisbildung für alle statt eines Hauses mit verschlossenen Fensterläden und unwürdigen Lebensbedingungen – das findet bei vielen Anklang.

Autonome Schule Zürich

Auch die Autonome Schule in Zürich (ASZ) kämpft um ihre Existenz (siehe WOZ Nr. 12/13 ). Am 12. Mai muss die Schule die jetzigen Räumlichkeiten auf dem Areal des Güterbahnhofs verlassen, da dort das neue Polizei- und Justizgebäude gebaut wird. Neue Räumlichkeiten hat die ASZ noch nicht gefunden. Doch ihre Forderung nach Raum in der Stadt Zürich bleibt bestehen: Die ASZ schrieb 36 Institutionen und Firmen betreffend leere Räumlichkeiten an. Von den meisten Angefragten blieb bis heute eine Antwort aus, die wenigen Antworten, die kamen, waren negativ. Die Stadt Zürich hat der ASZ allerdings ein Gesprächsangebot gemacht. Es besteht also noch Hoffnung.