«Nach Berlin»: Das grosse Verpassen

Nr. 18 –

Kann man über langweilige Figuren spannende Romane schreiben? Kaspar Schnetzler hat es versucht.

«Das ist, was ich will»: Über vermeintlich langweilige Menschen interessante Geschichten erzählen. So hatte Kaspar Schnetzler zum Roman «Kaufmann und das Klavierfräulein» 2010 erklärt. «Nach Berlin» bleibt der Idee treu, tritt aber mit der Geschichte von Vater und Sohn Morgentaler aus dem Angestelltenmilieu heraus. Der Vater ist noch Prokurist bei der Schweizer Kreditanstalt, der Sohn bald Student in Westberlin, bald Dozent in Zürich für Zürcher Lyrik. «Nach Berlin» erstreckt sich von 1966 bis in die Neunziger, passiert die Studentenunruhen, die DDR, ihren Niedergang, das hippe Berlin und als Kontrast Zürich.

Wenzel Morgentaler ist so ein Langweiler, er begleitet seinen Vater beim Traditionsgang über den Üetliberg: Vater drischt Plattitüden, Wenzel antwortet mit sachtem Widerstand. Überhaupt ist die Tradition ein Kreuz – alle männlichen Morgentalers sterben mit 67.

«Nach Berlin» ist ein Roman des Verpassens. Wenzel, der sich fremd fühlt in der Welt, bei den Frauen und mit sich selbst, nimmt nicht teil an Westberlin und kaum an der dämmernden Schweiz. Andere müssen ihm helfen, dass er in die Gänge kommt: Die Nachbarin aus einer der dominierenden Familien der Stadt tritt auf, die Fastliebschaft aus Berlin und einige mehr. Die zentrale Figur aber ist bis zur Groteske lebensfremd, unkomisch, belanglos und rasch auserzählt.

Dafür wird alles und jeder kommentiert: der Umgang mit Geschichte in Westdeutschland, die Achtundsechziger, Universitätspolitik, das in Familienbeziehungen erstarrte Zürich, die Gentrifizierung. Dabei wirft Schnetzler mit Substantivierungen um sich, es gibt stilistische Untiefen, Flüchtigkeitsfehler und fehlerhafte Zitate.

Schnetzlers Figuren bleiben deshalb durchsichtige Konstrukte. Morgentaler wird in endlosen Wiederholungen ausgestellt, wir folgen ihm, der als erster Mann aus der Familie das 67. Altersjahr überlebt und überraschend banal noch mit der Studentenliebe zusammenkommt, über fast 500 Seiten – nahe kommt er uns nicht. Sein Sozialautismus bewahrt ihn und uns davor, Brüche zu erleben. Die äussere Welt und die innere kommen nicht zueinander, auch das ist eine Geschichte des Verpassens. Richtig ärgerlich werden die Stereotype: Randfiguren treten ausnahmslos als VertreterInnen von Grossgruppen auf – die Deutschen sind redegewandt, zackig und obrigkeitshörig, Berliner grossmäulig, Ostrentner renitent, DDR-Frauen zupackend und gefühlsarm, Zürcher fad. Eine interessante Geschichte ist das nicht.

Kaspar Schnetzler: Nach Berlin. Bilgerverlag. 
Zürich 2012. 495 Seiten. Fr. 41.90