Obdachlos in der Schweiz: «Das Schlimmste ist halt die Langeweile»

Nr. 18 –

Das Sleep-In beherbergt Nacht für Nacht bis zu 26 Obdachlose. Alle diese Menschen haben ihre ganz eigene Geschichte. Eine Nacht im Aufenthaltsraum der bekannten Bieler Notschlafstelle.

In der Mitte des Raums stehen zwei Holztische nahe beisammen. Neben ihnen besprechen Dino Pedolin und Alex Bätscher die bevorstehende Nacht. Heute sind sie an der Reihe damit, im Aufenthaltsraum der Bieler Notschlafstelle Sleep-In zum Rechten zu schauen. Nacht für Nacht tragen jeweils zwei der vierzehn Mitarbeiter die Verantwortung für die Schicht.

Es klingelt. Pedolin schlendert zur Tür. Bevor er sie öffnet, weiss er nicht, was ihn draussen erwartet. Im Schnitt hoffen achtzehn obdachlose Menschen auf Einlass. Doch in manchen Nächten, vor allem im Winter, stehen mehr Menschen draussen, als es drinnen Betten gibt. Die 26 Betten der selbstverwalteten Organisation reichen in solchen Nächten nicht aus. Es ist Punkt neun. Pedolin öffnet die Tür.

«Bonjour!», sagt Pedolin mit einer Liste in der Hand. In den dreissig Jahren, die es das Sleep-In schon gibt, haben seine MitarbeiterInnen Jahr für Jahr immer mehr Menschen ohne Obdach begrüsst. Pedolin und seine KollegInnen müssen jährlich 200 Personen wegschicken. Und Leute wegschicken sei das Schlimmste an seinem Job, sagt Pedolin, der gerade eine Frau über die Schwelle treten lässt.

Die Frau, die wir Ana Capilla nennen wollen, war bereits gestern hier. Sie hat darum Anspruch auf einen Platz in der Notschlafstelle. So will es die Hausregel, die für mehr Kontinuität im Betrieb sorgen soll. Die meisten Obdachlosen haben neunzig Nächte im Jahr oder zehn Tage im Monat im Sleep-In zugute – und diese sind möglichst am Stück zu beziehen. Capilla zahlt bei Alex Bätscher die sechs Franken für die Nacht und setzt sich dann an einen der Holztische.

Ana Capilla kommt aus Spanien. Doch die 45-Jährige hat zwei Pässe, den spanischen und den Schweizer Pass. «Mein Vater ist Schweizer», sagt Capilla, während sie Gemüsesuppe schlürft. Die hübsche Frau mit dem mageren Gesicht nickt anerkennend. Die Suppe, die Bätscher vorbereitet hat, schmeckt ihr. Und während sie isst, beginnt sie mit ihrer warmen Stimme zu erzählen.

Ana Capillas Geschichte

«Ich kam vor zwölf Tagen in die Schweiz», erzählt sie. In Madrid, wo sie bis anhin ihr ganzes Leben verbracht hatte, ging es nicht mehr weiter. Sechs Monate schon suchte sie verzweifelt nach Arbeit, telefonierte mit Personalchefs, schrieb Bewerbungen. Nichts. Die Krise habe immer mehr Jobs gefressen, erzählt Capilla. Auch den ihren.

Lange Jahre arbeitete Capilla für ein Verlagshaus. Ihr Job war es, SchülerInnen aus Kinderbüchern vorzulesen, eine Werbemassnahme des Verlags. Capilla mochte ihren Job. Ihr habe es gefallen, die Kinderaugen zum Leuchten zu bringen, sagt sie und lächelt müde. «Doch dann kam die Krise.»

Erst wurde Capillas Lohn gekürzt, dann strich der Verlag ihren Job. Als Capilla ihre Wohnung in Madrid nicht mehr bezahlen konnte, entschied sie sich, in die Schweiz zu fliegen. In ein Land, wo – so hoffte sie – die Wirtschaft noch funktioniert. Sie packte ihre kleine Tasche. Den Pullover, den sie von ihrer Grossmutter zu Weihnachten bekommen hatte, nahm sie mit.

In Genf fand sie keine Arbeit. Bald konnte sich Capilla kein Hotel mehr leisten. Und so kam es, dass die ehemalige Geschichtenerzählerin bei der Migros nach Karton fragte. Auf einer Parkbank richtete sie sich damit einen Schlafplatz ein. Das kannte sie aus Spielfilmen. Als es eindunkelte, verkroch sie sich in ihrem Schlafsack. Es war ihre erste Nacht draussen.

Adam Estrellas Geschichte

Auch der 42-jährige Mann, der sich eben zu Ana Capilla an den Tisch setzt, verbrachte seine erste Nacht als Obdachloser in der Schweiz. Der Marokkaner begrüsst Capilla freundlich. Auch er will hier nicht mit richtigem Namen erscheinen. Nicht aus Scham, sondern aus Angst. Der gläubige Muslim will Adam Estrella genannt werden. Denn er wird verfolgt. Estrella beugt sich über einen Teller Pasta und beginnt zu erzählen.

«Ich habe Hunger», sagt Estrella, «und Rückenschmerzen.» Er gewöhne sich nie an diese körperliche Arbeit. Der ehemalige Philosophiestudent hat heute für zwanzig Franken den ganzen Tag über bei einer Zügelfirma gearbeitet. In seiner Heimatstadt arbeitete Estrella als Journalist. Bis an jenem Sommertag im Jahr 1999, als er entschied, das marokkanische System der konstitutionellen Monarchie zu kritisieren.

In einem Artikel forderte Estrella das Recht auf freie Meinungsäusserung. Mit dem Text war auch bald seine Karriere am Ende. Schon einen Tag nach der Veröffentlichung der zornigen Zeilen suchte ihn die Polizei per Haftbefehl. Sie bezichtigte Estrella des Landesverrats. Nur weil Estrella einen Freund bei der Polizei hatte, konnte er einer Verhaftung knapp entgehen. Estrella flüchtete nach Ägypten. Damit nahm für ihn eine jahrelange Odyssee ihren Anfang.

Norwegen, Schweden, Dänemark, Belgien, Holland, Frankreich, Spanien: Auf der Suche nach Arbeit oder auf der Flucht vor der Fremdenpolizei bereiste Estrella in den nächsten dreizehn Jahren vierzehn Länder. Vor bald drei Monaten kam er schliesslich in die Schweiz.

«Zusammen mit Norwegen ist die Schweiz das schlimmste Land», sagt der Flüchtling, der fünf Sprachen fliessend spricht. Er hält die «ökonomische Diktatur» für fast ebenso schlimm wie die marokkanische Monarchie. Wirklich frei sei er weder hier noch dort.

Die Schweizer Banken, ist sich Estrella sicher, hätten in seinem Schicksalsjahr 1999 die marokkanische Regierung gestützt. Ohne jene Unterstützung, glaubt Estrella, hätte sich das marokkanische System schon früher reformieren müssen. Die Schweiz habe profitiert, sei nun aber nicht bereit, die Folgen zu tragen. Das Sleep-In sei hierzulande der einzige Ort, wo er mit Respekt behandelt werde. In der Notschlafstelle bleiben Estrella nur noch fünf Nächte.

Kurz vor elf geht Estrella zu Bett. Nach ihm setzt sich ein Nigerianer an den Tisch. Dann eine Frau aus Biel, dann ein Mann aus Bern, dann eine Romafamilie. Über den ganzen Abend verteilt sind insgesamt sechzehn Personen an den Holztischen gesessen. Den 17. und letzten Gast, der den Aufenthaltsraum heute betritt, wollen wir Michèle Huber nennen.

Michèle Hubers Geschichte

Michèle Huber stellt sich eine Schüssel Suppe auf den Tisch, mag sich aber nicht hinsetzen. Sie isst im Stehen. Nervös tritt sie auf der Stelle, wirkt rastlos. Ihre Medikamente seien weg, erklärt sie. Man habe sie ihr gestohlen. «Und ohne mein Morphium kann ich nicht schlafen.»

Huber ist medikamenten- und drogenabhängig. In einer Nacht im Jahr 1999 konsumierte sie zum ersten Mal Kokain. Die heute 49-Jährige kehrte damals gerade aus Thailand zurück, wo sie ihr Glück als Babysitterin versucht hatte. Solche Gelegenheitsjobs hatte Huber, seit sie die obligatorische Schule abgeschlossen hatte. Mal arbeitete sie in Restaurants, mal in Fabriken, mal in Metzgereien – oder eben als Babysitterin. Meistens suchte sie sich ihre Jobs in der Schweiz, manchmal auch im Ausland. Nur einmal arbeitete sie länger an einem Ort.

Vier Jahre lang war Huber im Fundbüro der SBB tätig, hatte eine kleine Wohnung, eine Best-of-CD von Polo Hofer – und ein regelmässiges Einkommen. Als das Fundbüro schloss, kündigte sie ihre Wohnung und suchte vergebens in Thailand ihr Glück. Als sie wieder in die Schweiz kam, hatte sie kein Geld, keinen Job und keine Wohnung. Und kurz nachdem in jener Nacht das mit den Drogen angefangen hatte, begann sie auf Berns und Biels Strassen zu leben.

Tagsüber beschäftigt sich Huber heute mit Betteln. Etwas müsse sie ja machen. Denn das Schlimmste an der Obdachlosigkeit sei die Langeweile, sagt sie, bevor sie den Notruf des Bieler Spitals wählt und um Morphium bittet. «Huber, grüezi, die haben meine Medis geklaut!», sagt sie.

Nachdem Huber nochmals in die Nacht hinausgegangen ist, um sich neue Medikamente zu besorgen, wird es still im Aufenthaltsraum der Notschlafstelle. Dino Pedolin kontrolliert die Einnahmen, und Alex Bätscher beginnt aufzuräumen. Mit einem feuchten Lappen wischt er die Suppenflecken von den Tischen.

Notschlafstelle in Not

Seit über dreissig Jahren isst die Welt an den Tischen des Bieler Sleep-Ins gemeinsam Abendbrot. Nacht für Nacht hilft die selbstverwaltete Notschlafstelle Menschen in Not. Doch nun ist die Organisation selbst in einer Notsituation. Denn das Gebäude, in dem das Sleep-In eingemietet ist, muss saniert werden.

In den Duschräumen blättert die Farbe ab, Schimmel hat sich ausgebreitet – und die Luft riecht wie Wäsche, die in der Wäschetrommel vergessen wurde. Die sanitären Anlagen müssen renoviert werden. Dringend. Und nicht nur das: Der Warmwasserspeicher ist zu klein, die Aussenmauern zu wenig gut isoliert, durch die Fenster pfeift der Wind – und die Balkone drohen unter ihrer eigenen Last zusammenzubrechen. 360 000 Franken kostet die Gebäudesanierung insgesamt.

Die Bieler Stiftung Wunderland übernimmt ein Drittel der Kosten. Den Rest muss der betreibende Verein Dormitorium Sleep-In selbst auftreiben. Der bevorstehende Umbau droht den sonst kosteneffizienten Verein in finanzielle Schieflage zu bringen. Soll es die Bieler Notschlafstelle weiterhin geben, braucht die Organisation finanzielle Unterstützung.

Weitere Informationen zur Notschlafstelle unter: www.sleep-in-biel.ch.