Reportage: Einfach nur genauer hinsehen

Nr. 18 –

Die Reportage ist das derzeit meistgehätschelte journalistische Genre. Ein Plädoyer, warum es nicht neu erfunden werden sollte.

Wer wollte das nicht: hinausgehen, etwas erleben und es dann so in Worte fassen, dass die LeserInnen gebannt sind. Dass sie sich anrühren lassen. Dass sie lachen oder weinen, je nachdem, ob das Thema ein lustiges ist oder ein trauriges. Welcher junge Journalist und welche junge Journalistin träumt nicht davon, die ganz grosse Reportage zu schreiben?

Die Reportage, das sei die «Königsdisziplin» des Journalismus, heisst es oft – ein blödes Wort. Ist Journalismus denn kein aufklärerisches, zutiefst republikanisches Gewerbe oder sollte es zumindest sein? Feudale Kategorien darf es dann für seine Genres nicht geben.

KönigInnen sollte es im 21. Jahrhundert ohnehin nicht mehr geben, und es gibt nur noch wenige davon. Auch der Königsdisziplin geht es angeblich schlecht. Glaubt man ihren VerteidigerInnen, ist die Reportage vom Aussterben bedroht und kann so richtig nur noch in Schutzgebieten überleben: in den Einreichungen für unzählige Preise und auch in einer vor zwei Jahren in der Schweiz gegründeten edlen Zeitschrift in Leinen; sie trägt den so einfachen wie programmatischen Titel «Reportagen».

Der Traum, ein Romancier zu sein

Ein schönes Heft, ganz ohne Zweifel. Man liest es gerne, aber man muss es nicht lesen. Man muss nicht wissen, warum sich ein etwas dicklicher Schweizer die Pfunde im Hallenbad herunterstrampelte, um dann über den Ärmelkanal schwimmen zu wollen und nach wenigen Kilometern zu scheitern. Genauso wenig muss man zwingend dabei sein, wenn ein Reporter in China drei Taxifahrerinnen sucht, die er vor ein paar Jahren einmal kennengelernt hat. Es gibt Wichtigeres zu berichten aus China. Und aus Aleppo würde man gerne Reflektierteres lesen als den Erlebnisbericht eines Fotografen, der selbst zugibt, nichts von Syrien zu wissen und auch nicht schreiben zu können; der nach einer Woche Vorbereitung einfach hingefahren ist, weil er auch einmal Krieg erleben wollte. Das sind keine bösartig aus vielen Texten herausgesuchten Beispiele, das ist die Hälfte des Hefts vom März. Wo bleibt da die Relevanz? Solche Themen sind nicht eben republikanisch im Sinn der Res publica. Aber die Form der Texte ist so schön.

3000 AbonnentInnen hat «Reportagen» nach den vom Verlag veröffentlichten Mediadaten. Das ist nicht viel. Aber für einen Überraschungsband mit Erzählungen wiederum nicht schlecht. Denn das sind die dort versammelten Reportagen im Grunde: literarische Erzählungen mit dem besonderen Kick, dass sie wahr sind, dass sie sich so oder ähnlich zugetragen haben. Und sie sind ein Hinweis darauf, dass so manche Journalistin und mancher Journalist vielleicht doch lieber Romancier wäre. Es gibt ja Erfolgsstorys von Reportern, die es später zum Literaturnobelpreisträger gebracht haben: Ernest Hemingway, Gabriel García Márquez.

Unter JournalistInnen, die von der ganz grossen Reportage träumen, ist der «Reportagen»-Gründer und -Chefredaktor Daniel Puntas Bernet hoch angesehen. Im vergangenen Jahr durfte er das Heft beim Workshop des deutschen Reporter-Forums in Hamburg präsentieren. Bei diesem Treffen sind sie einmal im Jahr versammelt, die GrossreporterInnen von «Spiegel» und «Stern» und «Geo» und diejenigen, die es gerne wären. Sie hegen und pflegen ihr Genre, und liest man die Protokolle des letzten Treffens, so ist das gar nicht leicht. Denn die LeserInnen laufen davon – auch vor der Reportage.

«Man muss sich den Leser von heute vorstellen wie einen jungen Hund», erzählte Cordt Schnibben vom «Spiegel» den TeilnehmerInnen. Und weiter, zitiert nach dem im Internet veröffentlichten zusammenfassenden Protokoll der Veranstaltung: «Wie einen jungen Hund, der nicht still sitzen kann, der spielen will, der ins Netz will, zu Facebook, zu Twitter, der unsere alten Printjournalisten-Tricks längst kennt, mit denen wir ihn einfangen wollen …» Aha!

Scrollt man auf der Seite ein bisschen weiter nach unten, trifft man auf den Vortrag von Schnibbens «Spiegel»-Kollege Ullrich Fichtner. Und der beginnt nach diesem Protokoll so: «Wir müssen uns die Leser heute vorstellen wie einen wohlhabenden, gesetzten Menschen, der an seinem Geburtstag immer hört: Was soll ich dir schenken? Du hast doch schon alles. Mit anderen Worten: Die Leser wissen schon das meiste …»

Gedrucktes Skandaltheater?

Schnibben und Fichtner sind ganz ohne Zweifel gute Schreiber. Aber für wen schreiben sie nun? Für junge verspielte Hunde oder für wohlhabende, gesetzte Menschen? Das Erstaunliche: Es ist letztlich egal. Denn beide kommen zum selben Schluss. Fichtners gesetzte Menschen «haben – quasi im Vorbeisurfen – schon so viele News, so viel Alltagswissen aufgesammelt, dass wir Journalisten uns ernsthaft fragen müssen, wie wir sie da noch überraschen können». Und Schnibbens junger Hund ist einer, «der die Behäbigkeit, mit der einst ein Egon Erwin Kisch erzählte, nicht erträgt, der überrascht werden will».

Da haben wir es: Die Leserin und der Leser von heute wollen überrascht werden. So neu ist das gar nicht. Schon Henri Nannen selig wollte den LeserInnen mit dem «Stern» jede Woche eine neue «Wundertüte» präsentieren, und er war damit sehr erfolgreich. Damals, als noch in Blei gesetzt wurde und es kein Internet gab. Aber wie überrascht man die Lesenden von heute, die entweder alles schon zu wissen glauben oder lieber bei Twitter und Facebook schnüffeln? Schnibben weiss es: «Journalisten brauchen darum heute ein verschärftes Verständnis von Dramaturgie, und einer der zentralen Begriffe des neuen Erzählens lautet: Regelverletzung. Das Gegenteil von dem zu machen, was an der Journalistenschule gelehrt wird.»

Es ist schon richtig: In Lehrbüchern über die Reportage steht so mancher Humbug. So wird dort zum Beispiel fast durchweg das historische Präsens empfohlen. Das sei lebhafter, näher beim Leser. Mit dem Präsens fühle er sich gerade so, als sei er dabei, in Echtzeit gewissermassen. Als ob der Leser nicht wüsste, dass der Reporter oder die Reporterin in der Vergangenheit draussen im Feld war, dass er oder sie sich danach an einen Computer gesetzt und geschrieben hat, dass dieser Text gedruckt wurde und versandt und dass er selbst ihn frühestens einen Tag später in den Händen hält. Die grossen Reporterinnen und Reporter der Vergangenheit haben das respektiert. Egon Erwin Kisch, Ernest Hemingway, Martha Gellhorn, Ryszard Kapuscinski schrieben ihre Reportagen fast durchweg in der Vergangenheitsform. Heute ist hechelndes Präsens die Norm.

Aber Schnibben meint ja gerade, die LeserInnen von heute, diese jungen Hunde, würden einen Erzählstil, wie Kisch ihn pflegte, nicht mehr ertragen. Er fordert statt dessen «dramaturgische Intelligenz», eine Inszenierung der Wirklichkeit also, möglichst steil natürlich, mit richtigen Regelverletzungen. Auf dass man den Lesenden ein überraschtes «Huch!» entlocke. Nicht mit den Inhalten, sondern mit der Art der Inszenierung. Ist das noch Journalismus? Oder eher gedrucktes Skandaltheater?

Rezepte auf Hochglanzpapier

Die Reportage wurde einmal erfunden, um Menschen von Welten zu erzählen, die sie nicht kannten. Henry Morton Stanley etwa berichtete im 19. Jahrhundert den EngländerInnen vom ihnen damals noch weitgehend unbekannten Afrika. Da hatten sie etwas zu staunen. Heute glauben wir alles zu kennen, alles – «quasi im Vorbeisurfen» – schon einmal gesehen zu haben. Dabei gaukelt man uns nur etwas vor. PolitikerInnen und andere Mächtige haben ihre SpindoktorInnen und PR-Agenturen, die eine Welt in ihrem Sinn vor uns ausbreiten (und in Nachrichten wird oft genug darauf hereingefallen). Sie inszenieren die Wirklichkeit. Sollen wir das in der Reportage – mit «dramaturgischer Intelligenz» – nun auch tun? Um zusammen mit all diesen GauklerInnen in der Glaubwürdigkeitskrise zu versinken?

Sollten wir nicht. Wir sollten einfach nur genauer hinsehen. Jede Politik hat konkrete Auswirkungen im konkreten Leben konkreter Menschen. Zu denen müssen wir gehen. Wir müssen sie begleiten, ihnen zuhören, lesen, abgleichen, Zusammenhänge erkennen und verstehen. Und das müssen wir dann erzählen. So, wie wir es verstanden haben. Ganz einfach. Dann wird eine gute Reportage daraus. Eine, die mehr ist als beeindruckender Schein. Kisch hat das so gesagt: «Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit.» Das galt vor über einem halben Jahrhundert, und das gilt noch mehr heute, da SpindoktorInnen und PR-Agenturen unser Weltbild basteln. Sie verkaufen nur schöne Rezepte auf Hochglanzpapier. Wir sollten den LeserInnen vom Pudding geben, der beim Kochen tatsächlich herauskommt. Sie werden staunen.

«Reportagen» im Mai

Mit Reportagen aus vier verschiedenen Kontinenten erscheint das zehnte «Reportagen»-Heft im Mai 2013. Die Autorin Milena Moser ist in Singapur dem Schicksal der Putzfrauen nachgegangen, die unter schlimmsten Bedingungen arbeiten. In einem zusätzlichen Interview erzählt sie von ihren Eindrücken und Erlebnissen in Singapur. In «Zwischen zwei Müttern» erzählt Erwin Koch die Geschichte eines argentinischen Mannes, der als Baby gestohlen wurde, Michael Stührenberg berichtet in «Timbuktu muss warten» aus dem «Pulverfass Mali», und Linus Reichlin schreibt von der Grindwaljagd auf den Färöern.

Wie stets ist das Heft schlicht und schön gestaltet und trägt diesen Monat Türkisblau.