1.-Mai-Rede: Alles, für alle – wir geben gerne etwas ab

Nr. 19 –

«Aufsässig wie die Insekten in euren Swimmingpools»: Die WOZ dokumentiert die 1.-Mai-Rede, die die WOZ-Redaktorin und Schaffhauser AL-Kantonsrätin Susi Stühlinger auf dem Zürcher Bürkliplatz hielt.

«Geht doch! Und nehmt euer schiefes Koordinatensystem gleich mit.»

Wir wollen nichts / Was nicht so sein soll / Wie es nicht ist / Für das Gemeinwohl / Wir wollen alles, für alle / Von St. Gallen bis Genf / Von Bellinzona bis Basel / Von Rindsnierstück bis Wurst und Brot und Senf

Wer sind wir denn, dass ihr uns beständig befüttert mit Versprechen mit Hoffnungen nach mehr und Besserem von diesem und jenem – und uns nach Chancen hungrig lasst?

Wer sind wir denn, dass ihr uns zu immer wahnwitzigeren Leistungen peitscht, um den maroden Karren, vor den ihr uns spannt, durch euren Dreck zu ziehen?

Wer sind wir denn, dass ihr uns unsere Bedürfnisse diktiert und zeitgleich beständig den Verzicht predigt, ihr, die ihr so ungern verzichtet auf unsere Dienste?

Wir sollen mobil sein wie euer Kapital. Sollen flexibel sein wie eure Definition des Zumutbaren. Sollen uns niedrig ducken wie die Löhne, die ihr uns zahlt.

Doch wir sind mehr als eure Produktionsfaktoren, die ihr zusammen mit der Produktion verlagert und vernichtet habt – wir sind Menschen aus Fleisch und Blut, nicht Kostenfaktoren, Gewinnmaximierung, Shareholdervalues.

Wir sind mehr als eure Dienstleistungserbringer, die eure Anwesen putzen und die 
Achselhöhlen eurer Angehörigen.

Wir wollen faire Löhne / Wir wollen gute Renten / Wir wollen nicht als der Begriff von Freiheit enden / Den ihr hegt / Wir wollen alles, für alle / Von Zugersee bis Vallée de Joux / Von Seefeld bis Seebach / Von Sekretär bis Pflegerin und Putzkraft

Wer sind wir denn, dass ihr uns einpfercht in Mietskasernen am Stadtrand, die weichen müssen, sobald ihr noch mehr Platz für eure Aufwertung braucht?

Wer sind wir denn, dass ihr uns unsere Freiräume nehmt und mit Glaspalästen zudeckt und mit Kameras, mit Rayonverboten – auf dass wir euch nicht stören?

Wer sind wir denn, dass ihr uns nur dann wahrnehmt, wenn andere die Pflastersteine fliegen lassen – wer ist es denn, der die Scheiben repariert?

Doch wir dulden eure Spekulationsspielwiese nicht. Wir nehmen uns die Strassen und Plätze, die nicht euch allein gehören. Wir sind aufsässig wie die Insekten in euren Swimmingpools.

Wir sind mehr als euer Humankapital, das ihr in der Peripherie lagert, wir sind beweglich und sichtbar, nicht nur auf euren Monitoren. Wir sind Mieterinnen und knapp bei Kasse Ende Monat – nicht Steuererträge, Wachstumsraten und Preisentwicklungen.

Wir sind mehr als das, was ihr uns zugesteht. Wir lassen uns nieder auf den Brachen, die ihr verkommen lasst, streuen Blumensamen in die Ritzen in eurem Beton.

Wir wollen Raum / Um drin zu wandeln / Wir wollen Freiheit / Auch die des andern / Wir wollen alles, für alle / Über Grenzen und Gräben / Von hüben bis drüben / Von Schweizer Pass bis Mexiko und Libyen

Wer sind wir denn, dass ihr hier auf unserm Buckel Steuern spart und euer Gold, euer Holz, eure Bananen in unseren Heimatländern holt?

Wer sind wir denn, dass ihr uns kriminalisiert, uns prügelt und knebelt, uns erst einsperrt, dann ausschafft und dazwischen kaum was essen lasst?

Wer sind wir, dass ihr uns zumüllt, mit eurer Propaganda aus Angst und Hass, mit eurem Zynismus auf Weltformatplakaten?

Wir sollen weit weg sein wie euer Geld auf den Caymans. Unsichtbar sein wie eure Villen hinter den Hecken. Sollen fügsam sein wie eure Volksvertreter.

Doch wir sind mehr als die Projektionsflächen für eure kruden Ängste vor der sogenannten Überfremdung. Wir sind Menschen mit verletzlichen Herzen und Seelen – nicht Statistiken, Sozialhilfeleistungen und Platzmangel.

Wir sind mehr als Mittellose, von euch Bestohlene. Wir sind längst nicht so kriminell wie eure eigenen Machenschaften. Wir sind nicht schwarz oder weiss, sondern alles dazwischen – auch wenn das für euch zu kompliziert sein mag.

Wir wollen Zeit / Für unser Leben / Nicht nur für euer / Streben nach Profit / Wir wollen alles, für alle / Von Teilzeit bis Vollzeit / Von Küche bis Büro / Von Mutter bis Vater, Tochter, Sohn

Wer sind wir denn, dass ihr uns mit den Köpfen an gläserne Decken stossen lasst und uns höchstens als Quotenfrau befördert?

Wer sind wir denn, dass ihr meint, ihr könntet uns tiefere Löhne zahlen als unseren Kollegen, weil ihr denkt, dass wir uns nicht wehren werden?

Wer sind wir denn, dass wir uns entscheiden müssen für Familie oder Beruf, weil euch unsere Schwangerschaft nicht in den Kram passt?

Wir sollen still sein wie eure Kunstsammlungen. Sollen genügsam sein wie eure Solidarität. Sollen präsent sein wie euer Mangel an Empathie.

Doch wir sind mehr als nur Mitarbeiterinnen, die gut in eure Diversity-Strategie passen, so ihr denn eine habt. Wir sind Frauen und Männer mit Familien – nicht Geburtenraten, Quotendebatten und geschlechtsneutrale Formulierungen.

Wir sind mehr als nur Hamsterweibchen und -männchen in euren Tretmühlen. Wir haben Kinder zu Hause, in der Schule, in der Krippe. Und wir haben das Recht auf gleiche Löhne für gleiche Arbeit, egal welche Geschlechtsteile sich in unseren Hosen verstecken.

Wir wollen alles, für alle / Das ist nicht gerade wenig / Aber auch kein bisschen zu viel

Und wenn ihr jetzt findet, das sei übertrieben, dann geht doch, geht und nehmt eure Ignoranz, eure idiotische Ideologie und euer schiefes Koordinatensystem zwischen Wachstumsgier und Xenophobie gleich mit.

Und weil alles ein Geben und Nehmen ist, geben wir auch gerne etwas ab – von unseren miesen Arbeitsbedingungen, von unseren chronischen Beschwerden, unseren Pinkelpausenverboten, unseren Wasserschäden in der Dreizimmerwohnung, unserem Stress, von den Erniedrigungen, die wir erleiden, von unserer Müdigkeit – unserer Ohnmacht. Genau: alles, für alle.