Indien: KlassenkämpferInnen in schwarzer Robe

Nr. 20 –

Der indische Supreme Court gilt als einer der einflussreichsten Gerichtshöfe der Welt. Weil er unabhängig von der Politik agiert und sich von niemandem dreinreden lässt – auch von multinationalen Firmen wie Novartis nicht.

Ein mächtiges und öffentliches Gericht: Der indische Supreme Court wird an einer Parade zum Jahrestag der Republik Indien vorgeführt.

Eine solche Ohrfeige hat die indische Bundespolizei schon lange nicht mehr verpasst bekommen. Das Central Bureau of Investigation (CBI), eine Art indisches FBI, handle «wie ein gefangener Papagei, der seinem politischen Herrn nachplappert» und missachte das Gericht, befand Ende April der Supreme Court Indiens. Der oberste Gerichtshof des Landes hatte das CBI mit der Untersuchung eines grossen Korruptionsfalls beauftragt; bei der Vergabe von Kohleabbaugenehmigungen waren Millionensummen verschoben worden, dem Staat entgingen Einnahmen von bis zu 33 Milliarden US-Dollar. Doch statt das Gericht zu informieren, hatten die CBI-Verantwortlichen ihre Erkenntnisse an die Regierung weitergereicht. Dieses Vorgehen würde das gesamte juristische System in seinen Grundfesten erschüttern, tobte Rajendra Mal Lodha, einer von 24 RichterInnen am Supreme Court – und verdonnerte die Spitze der Bundespolizei dazu, innerhalb weniger Wochen Rede und Antwort zu stehen.

Es ist nicht das erste Mal, dass der Gerichtshof mit Behörden bis hinauf zur Regierungsspitze wenig zimperlich umspringt. Immer wieder sorgt der Supreme Court in Neu-Delhi für Furore, immer wieder legen sich die RichterInnen in ihren weissen Hemden und schwarzen Roben mit den Mächtigen an – und das in einem Staat, dessen Justizsystem als durchweg verrottet gilt (vgl. «Bestechlich und überlastet» im Anschluss an diesen Text). Manche sehen im obersten Gericht sogar die eigentliche Opposition im Land.

Woher kommt diese Ausnahmehaltung? Ein Teil der Erklärung ist im nationalen Ausnahmezustand zu suchen, den die frühere Ministerpräsidentin Indira Gandhi von der Kongresspartei 1975 verhängt hatte. Um ihren Posten zu retten, hatte die Tochter von Staatsgründer Jawaharlal Nehru Bürgerrechte ausser Kraft gesetzt, die Befugnisse der Gerichte beschnitten und das juristische Personal gezwungen, ihre politischen OpponentInnen zu verfolgen. Rund 110 000  Menschen wurden ohne Gerichtsverfahren inhaftiert. In dieser Zeit – der Ausnahmezustand dauerte bis 1977 – erkannte eine ganze Reihe hochrangiger Juristen, dass das bis dahin vom britischen Erbe geprägte und entsprechend elitäre Justizsystem geändert werden muss, um eine Wiederholung solcher autoritärer Regimes zu verhindern. So begannen hochrangige Richter wie V. R. Krishna Iyer (von 1973 bis 1980 Mitglied des obersten Gerichts) auf Basis der indischen Verfassung Entscheidungen zu treffen, die weit über ihre bisherigen Befugnisse hinausgingen.

Urteilen im öffentlichen Interesse

Einer ihrer ersten Beschlüsse ging in die grundlegenden Lehrbücher des Landes ein. Es ging um den Fall Hussainara Khatoon gegen den Innenminister des Bundesstaats Bihar. Im März 1979 war eine erfahrene Anwältin an den Supreme Court herangetreten, in ihren Händen nicht mehr als zwei Blatt Papier. Auf ihnen war das Schicksal von Tausenden von Untersuchungshäftlingen beschrieben, die in den Kerkern von Bihar dahinsiechten: Männer, Frauen, Kinder, Aussätzige, geistig kranke Menschen, allesamt von den Behörden vergessen und die meisten schon mehr Jahre in Haft, als ihnen bei einer Verurteilung gedroht hätten.

Mit so was hatte sich der Gerichtshof – der sich auf seine Aufgabe als letztinstanzliches Appellationsgericht beschränkte – bis dahin nicht befasst. Aber er liess die Klage zu und ebnete damit den Weg für Public Interest Litigation, also für Verfahren im öffentlichen Interesse. Die schockierten Richter – erst seit 1987 sitzen auch Frauen im Supreme Court – ordneten die sofortige Freilassung von 40 000  Untersuchungshäftlingen in ganz Indien an und verfügten, dass es ein Recht auf schnelle Verfahren geben müsse.

Nach dem Fall Khatoon, so hiess einer der Untersuchungsgefangenen, kamen zahllose Public-Interest-Verfahren ins Rollen. Nicht nur direkt betroffene Individuen hatten damit das Recht, vor Gericht zu ziehen, sondern auch Gruppierungen wie Menschenrechtsorganisationen, die stellvertretend für andere Klage erhoben – für misshandelte HeimbewohnerInnen, für KinderarbeiterInnen, für verschleppte Frauen, für ZwangsarbeiterInnen. In vielen dieser Fälle akzeptierte der Gerichtshof eine Anhörung. Und erliess danach Richtlinien. So beschloss er in den achtziger Jahren, dass der Direktor der Bombayer Hochschule für Sozialarbeit das Zentralgefängnis der Stadt besuchen und Interviews mit weiblichen Gefangenen führen müsse, weil eine engagierte Journalistin die Misshandlung von Frauen in Haft aufgedeckt hatte. Anschliessend verfügte der Supreme Court, dass weibliche Gefangene nur in Gegenwart einer Polizistin durchsucht, nur in Frauengefängnissen untergebracht und nur von Wärterinnen bewacht werden dürfen.

Von der Politik unabhängig

Dass auch Gerichte Verfahren in öffentlichem Interesse einleiten dürfen, dass allen BürgerInnen ein Klagerecht zusteht und dass vor dem Gesetz alle eine Chance bekommen sollten – dieser Fortschritt ist zum Teil Einzelpersönlichkeiten wie V. R. Krishna Iyer, P. N. Bhagwati, M. C. Mehta oder A. M. Ahmadi geschuldet, allesamt Spitzenjuristen, die eine liberale Ausbildung genossen hatten, über einen breiten Erfahrungsschatz verfügten, zu ihren Überzeugungen standen – und Spielräume zu nutzen wussten. Sie waren frei von den Zwängen, denen RichterInnen auf unteren Ebenen – wie den High Courts – oft ausgesetzt sind. Sie mussten nicht den nächsten Karriereschritt planen, weil sie schon ganz oben angekommen waren. Und sie wurden und werden – im Unterschied zu den unteren Rängen – nicht von politischen Gremien gewählt, sondern vom Kollegium ausgesucht und vom Präsidenten ernannt.

Das gab ihnen von Anfang an eine gewisse Unabhängigkeit. Und die Legitimation für juristischen Aktivismus, wie man das in Indien nennt: das Handeln aus eigenem Antrieb heraus. Einer, der sich von niemandem das Denken verbieten liess, war beispielsweise V. R. Krishna Iyer, heute 97 Jahre alt und immer noch aktiv. «Unser Justizsystem ist so obskur, dass sich die Menschen von ihm entfremdet haben», schrieb er 2002 in der Tageszeitung «The Hindu», «der juristische Prozess wird von Leuten betrieben, die nicht die proletarischen Massen repräsentieren, sondern aus der Elite oder der höheren Mittelschicht kommen.»

V. R. Krishna Iyer wandte sich auch stets gegen die weit verbreitete richterliche Praxis, Kritik an der Prozessführung als «Missachtung des Gerichts» zu ahnden. «Man sollte die Justiz nicht mit dem Papsttum verwechseln», schrieb er 2008, «Richter sind wie Minister, Gouverneure, Präsidenten und andere hohe Funktionäre Diener der Öffentlichkeit, nicht absolutistische Herrscher.» Meinungsfreiheit und öffentliche Kritik, gerade auch am Gerichtssystem, seien vielmehr Voraussetzungen für eine gute juristische Amtsführung.

Nicht alle RichterInnen stehen so klar links wie Iyer, der vor Beginn seiner juristischen Laufbahn in den fünfziger Jahren Justiz- und Sozialminister der ersten kommunistischen Regierung des südindischen Bundesstaats Kerala gewesen war. Aber viele von ihnen sind ähnlich offen. Auf die Rolle des Gerichts angesprochen, sagte beispielsweise A. H. Ahmadi, oberster Richter von 1988 bis 1997: «Unsere Aufgabe ist, die Rechte und Freiheiten der Menschen zu schützen.» Man dürfe sich das Gericht nicht nur in der Rolle des Schiedsrichters vorstellen, der bei rechtlichen Auseinandersetzungen entscheidet, «sondern als aktiven Mitspieler, der eingreift, Grundsätze formuliert und Richtlinien erlässt, die die Exekutive umsetzen muss».

«Was zum Teufel ist hier los?»

Und so traten immer mehr nichtstaatliche Organisationen an den Gerichtshof heran. 2010 forderte beispielsweise die People’s Union for Civil Liberties (PUCL), eine kurz nach Gandhis Ausnahmezustand gegründete Bürgerrechtsvereinigung, den Supreme Court auf, etwas für die städtischen Obdachlosen zu tun. Der Supreme Court setzte daraufhin eine Kommission zur Untersuchung der Obdachlosigkeit ein (allein in Delhi gibt es über 60 000 Obdachlose) und verfügte in einem historischen Urteil, dass die Bundesstaatsregierungen in allen grossen Städten Obdachlosenheime einzurichten hätten. Zudem müssten die Behörden dem Gericht direkt über die Umsetzung dieses Beschlusses berichten.

In einem anderen Fall, ebenfalls von der PUCL vorgetragen, gab der Gerichtshof 2011 die Anweisung, dass die Getreidespeicher des Landes für vom Hungertod bedrohte Menschen zu öffnen seien. «Wir können nicht zulassen, dass es zwei Indien gibt», urteilten die damaligen Richter Dalveer Bhandari (heute am Internationalen Gerichtshof) und Deepak Verma: «Man kann die Welt nicht glauben machen, dass wir über eine starke Ökonomie verfügen, wenn gleichzeitig Millionen hungern.» Daraufhin verteilte die Regierung fünf Millionen Tonnen Getreide in den ärmsten Bezirken des Landes.

Einfach nur gutgeheissen werden die Urteile des Gerichts allerdings nicht. Als etwa 2006 der Supreme Court eine Polizeireform anordnete mit dem Ziel, die Polizei einerseits von politischen Vorgaben zu befreien und sie andererseits rechenschaftspflichtig zu machen, hagelte es Einsprüche vonseiten der Regionalregierungen (die das Gericht Anfang 2007 allesamt verwarf). Auch der Rüffel, den das Gericht 2011 der Zentralregierung erteilte, weil diese nichts gegen Steuerflucht unternimmt, blieb nicht unwidersprochen. «Was zum Teufel geht in diesem Land vor?», donnerte daraufhin der sichtlich verärgerte vorsitzende Richter Sudarsham Reddy, als die Regierung lediglich die Einsetzung einer von ihr kontrollierten Kommission ankündigte.

Dass sich der Gerichtshof immer wieder mit der Regierung anlegt und politisch genehme Urteile unterer Instanzen oft aufhebt, dass er auf die Rechte der kleinen Leute pocht, in vielen Fällen – wie zuletzt im April 2013 – den Landraub an den Adivasi (den Nachfahren der indischen Urbevölkerung) verurteilt und Terrorverdächtige, die ohne Beweis eingesperrt wurden, freilässt, hat ihn zu einer populären Instanz gemacht. «Er ist der Gerichtshof der Inder», sagt etwa der frühere Vizekanzler der Universität von Delhi, Upendra Baxi.

Und auch wenn nicht alle Entscheidungen gut sind (Anfang Mai lehnte der Supreme Court die Einsprüche gegen das geplante AKW von Kudankulam in Tamil Nadu ab) und Millionen Menschen aufgrund der komplexen Prozeduren und hohen Verfahrenskosten noch immer keinen adäquaten Zugang finden – unabhängig ist das höchste Gericht Indiens bis heute geblieben. Das bekam Anfang April auch Novartis zu spüren. Das Schweizer Unternehmen unterlag in letzter Instanz bei seinem Rechtsstreit um die Ausweitung eines Patents (siehe WOZ Nr. 14/13 ). Das Interesse der Bevölkerung an billigen Medikamenten sei höher einzuschätzen als die potenziellen Verluste eines multinationalen Konzerns, urteilte das Gericht. Seither ist der Gerichtshof noch beliebter.

Aus dem Englischen von Pit Wuhrer.

Bestechlich und überlastet

Im Unterschied zum Supreme Court hat das restliche indische Justizsystem einen miserablen Ruf. «77 Prozent aller Inder halten es für korrupt», fand eine Studie von Transparency International India heraus; ein grosser Teil der landesweit üblichen Bestechungsgelder würde in den Taschen von AnwältInnen und JustizbeamtInnen verschwinden.

Oft geht es dabei um den Versuch, Verfahren zu beschleunigen. Anfang 2011 waren vor dem Supreme Court 54 500  Verfahren hängig, vor den High Courts 4,2 Millionen und vor den unteren Instanzen knapp 28 Millionen. Gemäss Schätzungen würde es 350 Jahre dauern, bis dieser Prozessberg abgetragen ist.

Das liegt auch am Personalmangel. Während in den USA 107 RichterInnen auf eine Million EinwohnerInnen kommen und in Britannien 51, sind es in Indien nur 13.