Medientagebuch: Was ist harte Recherche?

Nr. 21 –

Andreas Fagetti über das journalistische und moralische Versagen des «Blicks».

Im Mai 2011 rückt der «Blick» das Bild von zwei «Taxivergewaltigern» ins Blatt. Bloss: Einer der Taxifahrer ist unschuldig. Er wurde zunächst verdächtigt und sass kurz in Untersuchungshaft. Das Verfahren gegen ihn wurde dann aber eingestellt. Die Folgen der Publikation für den unschuldigen Mann waren allerdings nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Das «Magazin» recherchierte im Februar den Fall nach und zeigte auf, wie der «Blick» arbeitet und was es heisst, Opfer einer derartigen Recherche zu werden: Der Taxifahrer stand ohne Kunden da, Kollegen zeigten auf ihn, der Mann erkrankte.

Das Kreisgericht Wil hat nun den «Blick»-Journalisten, der die Geschichte recherchiert hatte, zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt. Dem Opfer hilft es nicht, es erhält keine Entschädigung. Für das Gericht ist erwiesen, dass der Journalist einen Privatdetektiv und zwei Kantonspolizisten zur Amtsgeheimnisverletzung angestiftet hat. Der Detektiv hatte nämlich das Bild im Auftrag des «Blicks» beschafft. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, Ringier zieht es weiter.

Das Boulevardblatt druckte in diesem Fall ohne Wissen des unschuldigen Manns dessen Konterfei bloss aufgrund eines Verdachts. Der «Blick»-Journalist konfrontierte den Staatsanwalt Thomas Hansjakob mit seinen Recherchen und versuchte, ihm die Namen der Verdächtigen zu entlocken. Der Journalist selbst habe keine Namen genannt. «Sonst hätte ich im Fall des unschuldigen Taxifahrers natürlich dementiert.» Darauf sagte der Journalist sinngemäss, dann sei es möglich, dass ein Unschuldiger als Vergewaltiger dargestellt werde. Hansjakob erwiderte: «Das ist Ihr Problem.» Die «Blick»-Macher mussten sich also bewusst sein, dass sie möglicherweise einen Unschuldigen an den Pranger stellen.

Die «Blick»-Verantwortlichen haben sich bei ihrem Opfer nicht entschuldigt, stattdessen stellen sie sich selbst als Opfer eines politischen (!) Prozesses dar. Die «Blick»-JournalistInnen hätten ihre Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen getan. Es handle sich um eine «klassische Verdachtsberichterstattung». Das Urteil richte sich gegen hart recherchierende JournalistInnen.

Bloss: Was ist harte Recherche? Wenn aus Verdächtigungen durch die Recherche harte Fakten werden. Das war hier nicht der Fall. Jeder Medienschaffende weiss ausserdem: Das Privatleben von Menschen, die nicht Personen des öffentlichen Lebens sind, ist tabu. Zumal dann, wenn diese Person unschuldig ist und nicht ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden möchte. Rolf Cavalli, der Vorsitzende der «Blick»-ChefredaktorInnen, hat in einem Interview gesagt, der «Blick» werde auch künftig keinen «Verlautbarungsjournalismus» betreiben und weiter mit informellen Quellen arbeiten. Eine gute Nachricht, sofern der «Blick» damit Missstände von öffentlichem Interesse aufdeckt. Dann sollen JournalistInnen auch Amtsgeheimnisse lüften.

Im Fall des Taxifahrers hat Ringier moralisch und journalistisch versagt. Rolf Cavalli riet im erwähnten Interview der Staatsanwaltschaft, ihre Informationspolitik zu überdenken. Vielleicht meinte Cavalli damit die Informationspolitik von Ringier: Als die WOZ bei der Medienstelle Fragen stellte, lautete die Antwort: «Ringier wird das Urteil (…) weiterziehen. Wir möchten uns zum Fall deshalb nicht mehr weiter äussern.» Nach Ringiers journalistischen Massstäben wäre jetzt wohl eine «klassische Verdachtsberichterstattung» angesagt.

Andreas Fagetti ist WOZ-Redaktor.