Durch den Monat mit Tiina Fahrni (Teil 5): Schwärmen Sie vom «neuen Menschen» der frühen Sowjetunion?

Nr. 22 –

Die Leiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Moskau, Tiina Fahrni, über das Potenzial von Cyborgs für die Geschlechterbeziehungen und ihren postmodernen Lieblingsort in der russischen Hauptstadt.

Tiina Fahrni: «Wer die Gesellschaft nachhaltig verändern will, sollte vermehrt darauf eingehen, wie technische Fortschritte unser gesellschaftliches Verhalten verändern können.»

WOZ: Frau Fahrni, was mögen Sie an Russland nicht?
Tiina Fahrni: Ich begegne hier auf Schritt und Tritt Aussagen wie: «Klar, dass du das als Frau so siehst» oder «Dir als Frau kann ich diese Geschichte nicht erzählen, weil ich deine Gefühle nicht verletzen will». Von morgens bis abends wird man mit Geschlechterstereotypen zugemüllt.

Ist das denn typisch für Russland?
Es gibt wohl leider überall auf der Welt solche geschlechtsspezifischen Zuschreibungen, aber hier bricht das schon verstärkt über mich herein. Zwar ist das Spektrum der traditionellen Frauenrollen in Russland breiter als im Westen. Erwerbstätigkeit, eine gewisse finanzielle Eigenständigkeit und das Übernehmen von Verantwortung gelten neben der Erziehungs- und Haushaltsarbeit als selbstverständlich. Gleichzeitig gibt es jenseits von Heirat und Familie kaum akzeptierte Lebensentwürfe. Frauen werden in Russland nicht im klassisch feministischen Sinn unterdrückt, sondern mehrfach belastet.

Wo sehen Sie Potenzial für Veränderung?
Mich nervt es, wenn Leute behaupten, festgefahrene Strukturen wie die Geschlechterdualität liessen sich nicht aufbrechen. Schliesslich haben wir durch Internet, Mobiltelefonie und soziale Netzwerke innerhalb kürzester Zeit und ohne gross darüber nachzudenken unser Kommunikationsverhalten ganz grundlegend verändert. Weshalb soll es denn möglich sein, menschliches Verhalten mit technischen Mitteln total zu revolutionieren, während gleichzeitig die Inhalte, das, was dahintersteht, auf einem vormodernen Status beruhen bleiben?

Worauf wollen Sie hinaus?
Ich spreche vom Konzept des Cyborgs.

Cyborg?
Ein Cyborg ist menschlich und maschinell zugleich und verbindet den gesellschaftlichen mit dem technischen Fortschritt. Aus der Ausdehnung des Begriffs des Menschlichen auf Wesen mit künstlichen Anteilen – die wir mit unseren Herzschrittmachern, Titangelenken und Smartphones schon lange sind – ergibt sich die Chance, sozial konstruierte Merkmale wie Ethnie oder Geschlecht zu hinterfragen und zu überwinden. Die US-amerikanische Biologin und Feministin Donna Haraway hat mit «A Cyborg Manifesto» das Thema bereits 1985 aufgegriffen. Seither hat sich technisch viel getan – und noch mehr steht uns bevor. Es ist bedauerlich, dass gerade linke Kreise sich kaum mit dem Bereich des Human Enhancement auseinandersetzen. Wer die Gesellschaft nachhaltig verändern will, sollte vermehrt darauf eingehen, wie technische Fortschritte unser gesellschaftliches Verhalten verändern können.

Das klingt nun nach einem Mix aus Science-Fiction und dem sozialistischen «neuen Menschen» in der frühen Sowjetunion …
Die damaligen sozialen Utopien experimentierten mit neuen Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die russische Avantgarde führte Gesellschaft, Kunst und Politik in einer einzigartigen Form zusammen. Der Bezug auf einzelne Konzepte aus dieser Zeit könnte für Zukunftsdebatten fruchtbar gemacht werden. Aber leider geht es heute im öffentlichen Diskurs nicht um offene Fragen, sondern um die Suche nach endgültigen, festgeschriebenen Wahrheiten, nach Helden und nach einer «festen Hand», in die man vertrauensvolle Aufgaben wie die Leitung des Staats legen kann. In der Populärkultur gibt es zwar spannende Ansätze zu neuen Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens; die konservativen Stichwortgeber taxieren sozial abweichendes Verhalten jedoch wieder zunehmend als «westliche Dekadenz». Russland sucht nach – im kulturhistorischen Sinn – modernen Wahrheiten, während das Land nur mit Mitteln der Postmoderne zu beschreiben ist.

Wie meinen Sie das?
Als modern verstehe ich das Bestreben, eindeutige, abschliessende und «wahre» Aussagen über die Gesellschaft zu treffen. Postmodern ist im Gegensatz dazu ein Bewusstsein darüber, dass jede Aussage in einem gewissen Bezugsrahmen gemacht wird und in einem anderen Zusammenhang ihre Bedeutung verliert. Es ist das Nebeneinander-Existieren und das Sich-gegenseitig-Aushalten verschiedener Narrative und Wahrheiten.

Können Sie ein Beispiel geben?
Mein Lieblingsort in Moskau ist das WDNCh, das Allrussische Ausstellungszentrum, mit dessen Aufbau vor dem Zweiten Weltkrieg begonnen wurde. Ein riesiges Park- und Messegelände, auf dem jede Sowjetrepublik einen Pavillon hatte, wo Weltraumraketen ausgestellt waren und es einen goldenen Brunnen der Völkerfreundschaft gibt, dessen Frauenfiguren die verschiedenen Landesteile symbolisieren. Heute wird das Gelände kommerziell genutzt: Es gibt unzählige Schaschlikstände, in den Pavillons finden Pelzauktionen, Bonsaiausstellungen und Hightechmessen statt. Das absolut Erhöhte der sowjetischen Ideologie koexistiert ständig mit dem absoluten Ideal einer kapitalistischen Konsumgesellschaft. Und beides ist gleichzeitig auf demselben Areal zu besichtigen. Das spiegelt für mich den heutigen Zustand Russlands – und ist zutiefst postmodern.

Tiina Fahrni (36) ist Leiterin des Regionalbüros Moskau der deutschen Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie plant, irgendwann ein Buch über postmoderne Gesellschaftsentwürfe bei den Pet Shop Boys und in der britischen Sci-Fi-Serie «Doctor Who» zu schreiben.