Asef Bayat: In Räume vordringen, damit sie sich verändern

Nr. 24 –

«Stilles Vordringen»: so nennt der iranische Soziologe Asef Bayat die Art, wie Mittellose und Marginalisierte im Nahen Osten ihren widrigen Lebensumständen trotzen. Ohne Slogans und Parolen setzen sie ihr Recht auf ein besseres Leben durch.

Danach haben sie ihn prophetisch genannt. Nach den Revolutionen 2011.

Im Januar stürzten die TunesierInnen ihren Präsidenten, die ÄgypterInnen folgten. Nur wenige Wochen zuvor hatte Asef Bayat, Professor für Soziologie und Nahoststudien an der Universität Illinois, sein Buch «Life as Politics» («Leben als Politik») veröffentlicht. Er zeigt darin, dass sich die Mittellosen und Marginalisierten im Nahen Osten keineswegs passiv in ihr Schicksal fügen. Sie suchen, oft unbemerkt von aussen, Strategien, um ihre Situation zu verbessern, um ihr Recht auf Teilhabe durchzusetzen. Damit schaffen sie sich in kleinen Schritten neuen Handlungsspielraum.

«Er hat die Revolutionen vorausgesehen!», schrieben die Kommentatoren und Rezensentinnen. Bayat, ein kleiner, wacher Mann, lacht, wenn er heute davon erzählt. Nein, so etwas hätte er sich niemals vorstellen können. Nicht eine solche Heftigkeit, eine solche Geschwindigkeit! «Und auf diese wunderbare Art und Weise!»

Bayat wird heute oft nach den Revolutionen gefragt. Doch die Revolution, das Singuläre, Explosive, Aussergewöhnliche, ist eigentlich weit weg von seinem Thema.

Recht auf ein besseres Leben

Bayats Forschung kreist um eine Frage, die man als den Nährboden der arabischen Revolutionen sehen kann und die doch kaum einen grösseren Gegensatz dazu bilden könnte. «Stilles Vordringen», «quiet encroachment», hat er die Art getauft, wie Mittellose und Marginalisierte im Nahen Osten ihren widrigen Lebensumständen trotzen. Wie sie ohne Slogans und Parolen, ohne Demonstrationen und Aktionen im Alltag beharrlich ihr Recht auf ein besseres Leben durchsetzen. Jeder für sich und doch auch für die anderen, vereint durch dieselbe Unterdrückung, dieselben Nöte. MigrantInnen aus den Dörfern besetzen Land und beanspruchen damit ihren Teil der Stadt. BewohnerInnen der Armenviertel zapfen Wasser- und Stromleitungen an und setzen damit ihr Recht auf Teilhabe am öffentlichen Leben durch. Frauen klagen vor Gericht ihre Rechte ein, legen die Gesetze in ihrem Sinne aus; sie studieren und gehen arbeiten, sodass sie die Mehrheit an den Universitäten und in manchen Berufen stellen. Damit verändern sie Räume, die bisher männlich dominiert waren, dauerhaft. Raum schaffen, Räume verändern, indem man in sie vordringt – das ist der Kern des stillen Vordringens.

Auch Bayat ist auf stille Weise vorgedrungen. Aufgewachsen in einem Dorf im Iran und einem Armenviertel von Teheran, hat er sich an der Universität hochgearbeitet, war sechzehn Jahre lang Professor in Kairo, dann in den USA. Sein Interesse an den Mittellosen ist geblieben, die eigenen Erfahrungen bezieht er in die Forschung ein. «Ich erinnere mich an vieles. An die Beziehungen, die Art, wie die Menschen im Dorf und in unserem Viertel lebten. Heute gehe ich in die Ashwayyat, in die marginalisierten Viertel am Rande Kairos, und spreche mit den Menschen. Da hilft mir mein Hintergrund.»

Seine Studienzeit im Teheran der siebziger Jahre hat ihn politisiert. Sein erstes Buch schrieb er über «Arbeiter und Revolution im Iran». «Bei diesem, sowie bei den nächsten Büchern, ging es noch um die klassische Arbeiterklasse, um angestellte Industriearbeiter. Mit der Zeit änderte sich das. Ich sah ja in Ägypten, im Iran, in anderen Ländern des Nahen Ostens, dass ein ganz grosser Teil der Armen informell arbeitete. Da begann ich mich zu fragen: Was ist eigentlich deren Politik?»

Die «Informellen», die Marginalisierten, wurden sein Thema. Und Bayat sah Millionen von Menschen, die mit kreativen Strategien der Armut, der Prekarität trotzten, in die sie die neoliberalen Reformen der arabischen Staaten seit den achtziger Jahren gestürzt hatten. Anders als die westlichen BeobachterInnen, die dem Nahen Osten über Jahre hinweg Stagnation, Hoffnungslosigkeit und Resignation attestierten. Es sind Menschen, die als Strassenhändlerinnen oder Tagelöhner in die Innenstädte vordringen, die sich Land zum Bebauen, zum Wohnen aneignen. Frauen, die ihre Rechte durchsetzen, ohne sich als Feministinnen zu bezeichnen, ohne Teil einer Frauenbewegung zu sein. Jugendliche, die scheinbar mit Politik nichts am Hut haben, aber durch das Hören bestimmter Musik, das Tragen bestimmter Kleidung ihre Jugend gegenüber der autoritären Staatlichkeit einfordern.

An den Rändern der Gesellschaft

«Nicht-Bewegungen» nennt Bayat dieses Agieren an den Rändern der Mainstream-Gesellschaft: individuelle Handlungen, aber so viele zugleich, dass sie kaum einzudämmen oder zu verhindern sind und damit einen politischen Effekt entfalten. Das Problem der Forschung sei, schreibt er in «Life as Politics», dass sie nach «Bewegungen» suche, wie sie sich in westlichen Demokratien ausbilden. Oder nach Stadtteilinitiativen, Nachbarschaftskomitees wie in Lateinamerika, die offen und kollektiv agieren und explizit politische Forderungen an den Staat stellen. Unter den Bedingungen sehr autoritärer Regime sei dies gerade für arme Menschen zu riskant, zu kostspielig. Aber diese autoritären Regime sind gleichzeitig schwache Regime, gerade an ihren Rändern ist ihre Legitimität, ihre Fähigkeit zur Kontrolle gering. «Diesen Spielraum», sagt Bayat, «nutzen die Marginalisierten für ihr ‹stilles Vordringen›. Und jeder isolierte, einzelne Schritt ebnet den Weg für den nächsten.»

Der Nährboden der Revolution

Aber kann man tatsächlich von einer politischen Handlung sprechen? Ist es nicht einfach ein Wille zu überleben, der die Armen zwingt, ihre Möglichkeiten zu nutzen, ohne sich ihrer Wirkung bewusst zu sein? «Oh, die meisten sind sich durchaus dessen bewusst, was sie tun. Die Strassenhändler, die die Uferpromenade in Kairo, die Corniche, besetzen und von dort immer und immer wieder von der Polizei vertrieben werden, sagen ganz offen: Gebt uns das Recht, legal zu verkaufen und genug zu verdienen. Gebt uns das Recht, Gewerkschaften zu bilden – dann zahlen wir Steuern! Aber solange es das nicht gibt, was sollen wir anderes tun, als die Gesetze zu brechen? Das ist unser Recht!» Es gehe nicht nur um materielle Verbesserungen, fügt Bayat hinzu, es gehe auch um Würde. Und die Definition eines würdevollen Lebens, der eigenen Rechte verändere sich mit dem Vordringen. «Eine Frau ist vielleicht in ihrem Dorf jeden Tag zur Quelle gelaufen, um Wasser zu holen. Aber wenn sie in die Stadt gezogen ist, sieht sie es als ihr Recht an, fliessendes Wasser zu haben.»

Waren diese Räume an den Rändern der Gesellschaften der Nährboden der Revolution? Waren die arabischen Revolutionen solche der Marginalisierten, die sich im Stillen vorangekämpft hatten und dann, schlagartig, politisch wurden? Bayat schüttelt den Kopf: «Die Proteste gingen nicht von diesen Gruppen aus. Zunächst hat eher die neue arabische Öffentlichkeit eine Rolle gespielt, die sich in den letzten Jahren herausgebildet hat. Aber an einem Punkt haben sich die Arbeiter, die Marginalisierten, die Armen angeschlossen –das hat alles verändert. Damit ist es eine Revolution geworden.» Wie das gelungen ist – diese Frage kann Bayat nicht beantworten. Er fragt sich noch immer, warum 2009 dasselbe im Iran nicht geschehen ist. Warum Millionen Menschen in Teheran demonstrierten, die Arbeiter und Mittellosen aber in ihren Häusern blieben.

Vielleicht waren es die gebildeten Mittellosen, die den Unterschied gemacht haben, jene Gruppen junger, gut ausgebildeter, aber chancenloser Menschen, von denen es in allen Staaten des Nahen Ostens Millionen gibt. «Sie waren ein Bindeglied», meint Bayat. «Über Facebook und Twitter waren sie mit ihren Freunden vernetzt, waren Teil des Aufstands. Zugleich haben sie mit ihren Eltern, mit ihren Onkeln und Tanten geredet und den Aufstand so in die breite Bevölkerung getragen. Ihnen ist geglaubt worden.»

Doch ob die Mittellosen und Marginalisierten am Ende von den Umbrüchen profitieren werden? In einem Aufsatz in der «New Left Review» hat Bayat kürzlich auf das Paradox hingewiesen, dass die arabischen Revolutionen von Gruppen dominiert wurden, die eigentlich keine Revolution, sondern den Staat durch Reformen erneuern wollten: die jugendlichen MenschenrechtsaktivistInnen, die NGOs, denen sie nahestehen, aber auch Parteien wie die Muslimbrüder, die als Trittbrettfahrer von den Revolutionen profitiert haben.

Am Ende blieb der Staat derselbe

Diese Gruppen hatten alle kein Konzept, wie der Staat radikal anders sein sollte. So blieb er in den meisten Fällen derselbe: ein alter Staatsapparat, der von einer revolutionären Bewegung mit stetem Druck zu Reformen gedrängt wird. Ein mühsames Unterfangen, mit ungewissem Ausgang. In Ägypten blockiert der Machtkampf zwischen der Justiz, die noch immer dem alten Regime nahesteht, und den regierenden, aber inzwischen äusserst unbeliebten Muslimbrüdern jegliche Politik. Tunesien wird in einem Lagerkampf zwischen säkularen Liberalen und Religiösen aufgerieben. Eine Situation, der Bayat zumindest etwas abgewinnen kann: Sie verhindere, dass die Partei, die aus der Revolution als Sieger hervorging, allzu schnell ein ähnlich autoritäres und einheitliches System wie zuvor aufbauen kann.

Und die Mittellosen? Sie haben zumindest von der gewaltigen Welle der Politisierung profitiert, die über die arabischen Staaten hinweggeschwappt ist: Im allgemeinen Trend zur Organisierung haben auch die Informellen begonnen, sich zusammenzuschliessen, Forderungen zu stellen und gemeinsam aufzutreten. «Dies ist die grösste Errungenschaft der Revolution», sagt Bayat. Ob sich das langfristig als erfolgversprechend herausstellt oder die Armen am Ende doch wieder auf stillere Wege des Vordringens zurückgreifen werden, wird die Zeit zeigen.