Hommage an Laure Wyss (1913–2002): Die närrische Stellung, eine Frau zu sein

Nr. 24 –

Laure Wyss war eine Pionierin des Schweizer Journalismus. Ihre Reportagen und Bücher waren frei von Bildungsdünkel und doch komplex, dabei persönlich, aber nie privat.

Laure Wyss im Jahr 1939 Foto: Privatarchiv Nikolaus Wyss

Zuerst hat Laure Wyss mich ein wenig enttäuscht – denn sie entzauberte meine Erwartungen. Soeben aus den USA zurückgekehrt und mit einem Philosophieabschluss in der Tasche, wünschte sich die Jungfeministin nämlich eine schweizerische Radikale wie Betty Friedan. Oder noch besser: eine hiesige Simone de Beauvoir, elegant, intellektuell, der freien Liebe frönend. Eine Frau jedenfalls, die ganz anders war und lebte als die eigene Mutter oder die Mütter ihrer Freundinnen.

Deshalb versuchte ich, Laure Wyss bei meinem ersten Interview für die junge WOZ in eine beauvoirsche Passform zu zwängen. Das war vor dreissig Jahren. Die damals bereits siebzigjährige Berufskollegin machte das Experiment ziemlich bereitwillig mit. Denn Laure Wyss war nicht bloss eine grosszügige Mäzenin des journalistischen Nachwuchses. Sie teilte obendrein meine Begeisterung für Beauvoirs Thesen zur weiblichen Eigenständigkeit. «Das andere Geschlecht» war auch für sie ein «livre de chevet», ein Lieblingsbuch.

Gegen einen Feminismus ohne Kinder

Laure Wyss lebte und dachte feministisch. Aber sie war keine Simone de Beauvoir, keine eloquente Parisienne, die ich aus der Ferne idealisieren und bewundern konnte. Die Lebensgeschichte, die mir die Bieler Bürgerstochter 1983 ins Aufnahmegerät diktierte, erinnerte mich vielmehr an die kleinbürgerliche Weltsicht unserer Eltern. Es ist heute kaum mehr vorstellbar, dass eine unverheiratete Frau Mitte dreissig, die bereits ein Hochschulstudium und eine gescheiterte Ehe hinter sich hat und nun ein Wunschkind erwartet, sich vor ihrer Umgebung verstecken muss – oder glaubt, sich verstecken zu müssen. Die schwangere Journalistin Wyss hingegen gab 1948 ihre Stelle auf und verdingte sich als Haushalthilfe nach England.

Auch meine Mutter hatte unter dem rigiden sozialen Korsett gelitten, das die Nachkriegszeit für die Schweizer Frauen bereithielt. Im Gegensatz zu Laure Wyss hatte sie aber dem gesellschaftlichen Druck nachgegeben – und verlangte zwanzig Jahre später dasselbe auch noch von mir. Und nicht nur sie. Die Herren der Wirtschaft und Politik sperrten Frauen hierzulande so lange wie irgendwie möglich ins Laufgitter. Was die 1913 geborene Laure Wyss als Berufsfrau und als unverheiratete Mutter erlebt hatte, kam mir streckenweise ziemlich bekannt vor, obwohl ich vierzig Jahre später auf die Welt kam. So langsam dreht sich das Rad der Emanzipation.

Nehmen wir das «Luzerner Tagblatt», wo Laure Wyss von 1950 bis 1962 eine Frauenbeilage betreute. Zehn Jahre später begann ich ein Volontariat bei dieser Lokalzeitung. Und siehe da, die Nachfolgerin von Laure Wyss war immer noch die einzige Frau auf der Redaktion. Mich, die Neue, empfing man mit Misstrauen und vertraute ihr nur ungern so wichtige Aufträge wie Fahnenweihen oder Manöverberichte an. Bei einer Tagung zum Thema «Regionalplanung» bedauerten die Gemeindepräsidenten das arme Fräulein von der Presse, das sein hübsches Köpfchen über so trockener Materie zerbrechen musste. In der Pause spendierten die Mannen aus lauter Mitleid einen Kafi mit Nussgipfel. Im Unterschied zu Laure Wyss hatte ich Anfang der siebziger Jahre allerdings die Gewissheit, dass diese Art Frauendiskriminierung ein Auslaufmodell war. Die Rechtsgleichheit von Mann und Frau war bloss noch eine Frage der Zeit. Einer Zeit, der vorab unangepasste und widerständische Frauen wie Laure Wyss zum Durchbruch verholfen hatten.

In den Jahren vor unserem WOZ-Gespräch war endlich die Gleichstellung von Mann und Frau in der Bundesverfassung verankert worden, und auch die Revision des patriarchalen Familienrechts kam in Gang. Laure Wyss war die Erste, die solche Gesetzesänderungen begrüsste. Aber weder sie noch ich glaubten, dass mit der rechtlichen Gleichstellung die Frauenfrage schon gelöst sei. Insbesondere waren wir uns trotz unseres Altersunterschieds einig, dass Mutterschaft nicht, wie Beauvoir behauptete, ein Fallstrick für die Frauen sein musste. Für uns war gerade dieser Lebensentwurf die Feuerprobe jeglicher Emanzipation. Unsere gemeinsame Stellungnahme gegen einen Feminismus ohne Kinder war aber nicht der Beginn eines Müttermanifests, sondern ein Plädoyer für eine Gesellschaft, in der Frauen und Männer, Alte und Junge, Gesunde und Kranke, Familien und EinzelgängerInnen gleich viel Platz und Rechte haben.

Innovativer Ich-Journalismus

Für die Journalistin Laure Wyss begann dieser Kampf um umfassende Gleichberechtigung am eigenen Schreibtisch. Doch das «Aufbegehren für sich selbst im Sinne der ganzen Sache», wie Wyss selbst ihre Lebenseinstellung nannte, endete nicht im Redaktionsbüro des «Tages-Anzeigers» oder in demjenigen des «Magazins» oder im Studio des Schweizer Fernsehens. Die Diskriminierung und die Rebellion dagegen setzten sich in den Korridoren, in der Kantine und manchmal sogar im privaten Kreis fort. Laure Wyss sagte, zwei Dinge hätten «die närrische Stellung, Frau zu sein» besonders erschwert: erstens die fehlende Schützenhilfe von jungen Kolleginnen, die zuerst ihre eigenen Erfahrungen mit Diskriminierung machen mussten. Zweitens die Beschuldigung, eine mit Ressentiments behaftete Person zu sein, falls sie ausnahmsweise im vertrauten Kreis über ihre Verletzungen sprach. Vergleichbares passiert auch in der heutigen Arbeits- und Lebenswelt. Eine gewisse Ausgesetztheit der Aufbegehrenden gehört zum sozialen Wandel, zur Emanzipation mit dazu.

Für soziale Gerechtigkeit exponierte Laure Wyss die eigene Person schonungslos. Aber sie betrieb keine Nabelschau wie viele heutige Blogger und Kolumnistinnen. Über solche AutorInnen spottete sie bereits 1983: «Was bleibt denn diesen schmalen Schreibern anderes übrig, als in der eigenen Biografie zu wühlen, sie auseinanderzuzerren, in Stücklein zu zerlegen, in kleinste Brocken, die uns Lesern im Hals steckenbleiben?» Selbstbewusst, KritikerInnen mögen sagen: arrogant, setzte Laure Wyss dagegen ihren eigenen innovativen Ich-Journalismus: «Ich habe meine Biografie zur Verfügung gestellt beziehungsweise an ihr herumexerziert, wenn ich tief überzeugt war: Das betrifft auch andere», sagte sie 1983 im WOZ-Gespräch. Wie gut sie das tat, ist unter anderem nachzulesen in «Was wir nicht sehen wollen, sehen wir nicht» (1987), einem Sammelband mit journalistischen Laure-Wyss-Texten aus vier Jahrzehnten. In ihrem letzten, posthum veröffentlichten Buch «Wahrnehmungen» (2003) versuchte die bald Neunzigjährige dann, noch einmal «den überwältigenden Bogen eines menschlichen Lebens» nachzuzeichnen – im Bewusstsein, dass sich Erinnerungen laufend verändern, verflüchtigen oder verdichten und verschieben.

Zurück zu den Texten

Nun ist zum 100. Geburtstag von Laure Wyss eine Biografie erschienen: «Leidenschaften einer Unangepassten» von Barbara Kopp. Wird dieser Lebensbericht dem journalistischen Ansatz der Porträtierten – «persönlich, aber nie privat» – gerecht? Bestätigt, ergänzt oder korrigiert die Biografin Laure Wyss’ eigene Beobachtungen? Wie weit dürfen wir in die Intimsphäre dieser Frau eindringen, die diesen Raum für sich selbst stets verteidigt hat? Sollen wir es und wenn ja, warum? Das sind alles interessante publizistische und gesellschaftliche Fragen; gerade weil sie über das Private hinausweisen.

Mich selbst führte die Biografie zurück zu den Texten von Laure Wyss selbst, auch zu solchen, die ich fast vergessen hatte: der Romanerstling «Das rote Haus» (1982), der fiktive Briefwechsel mit einer mutmasslichen Terroristin «Liebe Livia» (1985) oder die sorgfältige Gerichtsreportage «Ein schwebendes Verfahren» (1981). Dazu die feinsinnigen Gedichtbände «Lascar» (1994) und «Rascal» (1999), die mich nicht überrascht haben, weil Laure Wyss noch in ihren dokumentarischsten Texten die Sprache mit dichterischer Sorgfalt und sicherem Gespür verwendete und an ihr schliff, bis sie ihren Ansprüchen genügte.

Der Titel ist ein Zitat aus «Das rote Haus», Verlag Huber, Zürich 1982.