Internetfahndung: «Sogar meine Grossmutter rief mich besorgt an»

Nr. 24 –

Nach Ausschreitungen zwischen Fussballfans und der Polizei fahnden Luzerner Behörden im Internet nach mutmasslichen Tätern. Dabei verstossen sie wohl gegen das Datenschutzgesetz. Fans fühlen sich zu Unrecht an den Pranger gestellt.

Als Mario Ziegler* sein Bild auf der Website der Luzerner Polizei sah, fiel er aus allen Wolken. Unter dem Begriff «Randalierer» wurde nach ihm gefahndet. Er habe sich an Ausschreitungen im Anschluss an ein Cupspiel zwischen dem FC Luzern und dem Grasshopper Club Zürich (GC) beteiligt.

Jemand erkannte Ziegler und meldete ihn der Polizei. Ziegler verweigerte jede Aussage, er fühlte sich von der Polizei vorgeführt. Der 27-Jährige ist schon fast sein ganzes Leben lang GC-Fan. In der Szene ist er gut bekannt, er gilt nicht als Gewalttäter: «Ich möchte meinen Verein überall unterstützen. Egal wo er spielt», beschreibt er seine Leidenschaft. So fuhr Ziegler auch an jenem 20. März 2012 nach Luzern und erlebte eine weitere Niederlage von GC. «Wahrscheinlich hat die Frustration über diese Niederlage in der ohnehin miserablen Saison dazu geführt, dass einige durchdrehten.» Am Bahnhof eskalierte die Situation. Minutenlang bewarf eine Handvoll GC-Fans die Polizei mit Flaschen und Steinen, die Polizei antwortete mit Gummischrot. Er habe sich die Szenen vom Zug aus angesehen, sagt Ziegler.

Die Polizei filmte die ganzen Ausschreitungen und wertete das Videomaterial aus. Sie erstellte ein internes Papier, das der WOZ vorliegt: Darin aufgeführt sind 66 Beschuldigte, bei fast allen werden die Tatbestände Landfriedensbruch, Gewalt und Drohung gegen Beamte sowie Sachbeschädigung festgestellt. Weiter ist akribisch vermerkt, wie viele Steine sie jeweils geworfen haben sollen: Die Zahlen bewegen sich bei den meisten zwischen null und drei, einige wenige sollen über zehn Steine geworfen haben. Alle Personen sind mit einem Bild vermerkt, darunter auch Mario Ziegler. Es zeigt ihn, wie er vor dem Spiel das Stadion betritt. Die Polizei Luzern beteuert, dass hinter jedem Bild weitere stünden, die die gleichen Personen bei der Ausübung eines Delikts zeigten. Ziegler wird verdächtigt, einen Stein gegen eine Leuchtwerbung der SBB geworfen zu haben.

Die Fahndung sei routinemässig verlaufen, sagt Simon Kopp, der im Kanton Luzern Mediensprecher der Staatsanwaltschaft und der Polizei zugleich ist: «Wir glichen das Bildmaterial mit bisher bekannten Personen aus dieser Szene ab und stellten es den Szenekennern der Zürcher Stadtpolizei zur Verfügung.» Der Abgleich mit bekannten Gewalttätern führte zu keinem Ergebnis, und die Zürcher Szenekenner erkannten lediglich fünf Personen. Also entschied sich die Polizei, im Internet nach den mutmasslichen Gewalttätern zu fahnden. Sie stellte jeweils drei Bilder von Mario Ziegler und 33 weiteren mutmasslichen Gewalttätern ins Internet.

Diese Fahndungsmethode wurde in der Schweiz erstmals 2003 anlässlich der Proteste gegen den G8-Gipfel in Evian von den Genfer Behörden angewendet. In der Folge wurde kritisiert, dass diese Methode die Unschuldsvermutung missachte und die Persönlichkeitsrechte beeinträchtige. Sie sei angesichts der Delikte – meist Landfriedensbruch oder Sachbeschädigung – unverhältnismässig. Gemäss Franz Riklin, Professor für Straf- und Strafprozessrecht an der Universität Fribourg, sind solche Fahndungsaufrufe innerhalb gewisser Rahmenbedingungen zulässig, insbesondere dann, wenn die Ausschreitungen einen hohen Sachschaden verursacht haben. Er hält aber fest: «Es müssen alle Anstrengungen unternommen werden, um Fehler im Sinn der Bekanntgabe von Bildern Unschuldiger zu minimalisieren.» Das jüngste Beispiel ist die Fahndung nach «mutmasslichen Randalierern» der «Tanz dich frei»-Demo (vgl. «Pranger nach ‹Tanz dich frei›» im Anschluss an diesen Text).

Der Luzerner Polizeisprecher Simon Kopp betont: «Die Öffentlichkeitsfahndung ist sensibel und wird erst dann zum Thema, wenn alle anderen Ermittlungsansätze ergebnislos waren.» Man habe das Vorgehen mit dem Datenschützer abgestimmt.

Nicht alle Mittel ausgeschöpft

Recherchen der WOZ zeigen, dass die Polizei im Fall der GC-Fans nicht alle anderen Mittel ausgeschöpft hat. Entgegen den Behauptungen der Luzerner Polizei hätten die Zürcher Szenekenner ungenügendes Bildmaterial erhalten, heisst es aus Polizeikreisen. Offiziell darf sich dazu niemand äussern: «Wir können und wollen keine Auskunft geben, die Kommunikationshoheit liegt allein bei der Polizei Luzern», sagt Marco Cortesi, Sprecher der Zürcher Stadtpolizei. Mehrere voneinander unabhängige Quellen bestätigen: Zahlreiche Fans auf den veröffentlichten Bildern sind den Szenekennern bekannt. Auch ein Abgleich mit der Hooligandatenbank, in der seit 2007 gewalttätige Fans registriert werden, ist nicht oder nur ungenügend erfolgt: Mindestens eine der gesuchten Personen ist sowohl in der Datenbank vermerkt als auch auf dem Fahndungsfoto der Luzerner Polizei gut zu erkennen.

Trotz der ungenügenden Abklärungen stellte die Polizei Luzern die Bilder ins Internet. In der Folge publizierte die Boulevardzeitung «Blick am Abend» einzelne Fahndungsfotos. Die Öffentlichkeit wird darauf aufmerksam – und Mario Ziegler sieht sich schon bald mit unangenehmen Fragen konfrontiert: «Sogar meine Grossmutter rief mich besorgt an. Glücklicherweise bin ich selbstständig erwerbend, sonst hätte ich möglicherweise an der Arbeitsstelle Probleme bekommen.»

Strafe trotz Einstellungsverfügung

Zieglers Fall kam vor die Staatsanwaltschaft. Diese stellte fest, dass die Bilder, die Ziegler beim Steinwurf zeigen sollen, nicht ausreichen: Es sei «auch nach mehrmaliger Sichtung des Videomaterials nicht eindeutig klar ersichtlich, ob es sich dabei wirklich um Mario Ziegler handelt», schreibt die Staatsanwaltschaft in ihrer Einstellungsverfügung. Und hält weiter fest: «Ein Freispruch vor Gericht wäre unter diesen Umständen mit Sicherheit zu erwarten.»

Als Ziegler diese Nachricht erhielt, machte er Luftsprünge. Sämtliche Auslagen von über tausend Franken übernahm die Staatskasse. Was ihm aber viel wichtiger war: Er hoffte, dass damit sein Rayonverbot aufgehoben würde. Solche Rayonverbote kann die Polizei ohne rechtmässige Verurteilung bei Sportfans aussprechen. So wird ihnen verboten, sich bei gewissen Spielen in genau definierten Räumen aufzuhalten. In Luzern ist das die Gegend um den Bahnhof und diejenige um das Stadion des FC Luzern. Die Grundlage dazu bildet das Konkordat über Massnahmen gegen Gewalt anlässlich von Sportveranstaltungen, das seit 2010 in Kraft ist. Im vergangenen Jahr beschloss die Konferenz der kantonalen Justiz- und PolizeidirektorInnen, das Konkordat zu verschärfen. Die maximale Dauer von Massnahmen wie dem Rayonverbot wurde von einem auf drei Jahre erhöht, und neu können Verbote für Rayons in der ganzen Schweiz verhängt werden. Zuletzt ist Zürich als achter Kanton dem Konkordat beigetreten.

Zieglers Anwältin verlangte bei der Polizei Luzern, das Rayonverbot aufzuheben, nachdem das Verfahren eingestellt worden war. Doch diese ignorierte den Entscheid der Staatsanwaltschaft. Beat Hensler, Kommandant der Luzerner Polizei, schrieb Zieglers Anwältin: «Nach erneuter Sichtung des (…) Bild- und Videomaterials (…) bin ich nach wie vor der Überzeugung, dass es sich bei dieser Person auf den Aufnahmen um Ihren Mandanten handelt.»

Noch mehr als über das Rayonverbot ärgert sich Mario Ziegler über ein schweizweites Stadionverbot, das der FC Luzern für drei Jahre über ihn verhängte. Der FC Luzern hält sich an die Empfehlung der Polizei und ist nicht bereit, das Stadionverbot aufzuheben, wenn das Rayonverbot bestehen bleibt.

«Riesige Drohkulisse»

Neben Ziegler sind noch 31 weitere Fans von einem Rayonverbot betroffen. Gemäss Mediensprecher Simon Kopp hat die Staatsanwaltschaft insgesamt 22 Täter eindeutig identifiziert und rechtskräftig zu Geldstrafen zwischen 90 und 180 Tagessätzen und Bussen zwischen 700 und 4600 Franken verurteilt, vier Verfahren sind noch offen. Fast alle haben den Betrag bezahlt. Die meisten wohl, weil sie sich ihrer Schuld bewusst waren. Einzelne davon beteuern gegenüber der WOZ jedoch ihre Unschuld: «Ich wollte einfach, dass das so schnell wie möglich vorbeigeht», sagt einer. Auch Mario Ziegler spricht von einer «riesigen Drohkulisse», die die Polizei aufgebaut habe: Bei einzelnen mutmasslichen Tätern habe die Polizei am Arbeitsplatz angerufen, um sie vorzuladen, bei anderen habe sie die Vorladung an die Eltern geschickt, obwohl ihr die Adresse der Wohnung der Betroffenen bekannt gewesen sei. Ziegler vermutet: «Der Polizei ging es vor allem darum, uns zu bestrafen.»

Dafür spricht, dass 14 der 34 im Internet gesuchten Personen noch bis im April auf der Website der Luzerner Polizei aufgeschaltet blieben. Die meisten wurden längst identifiziert, hatten den Strafbefehl erhalten und teilweise auch schon bezahlt. Die Polizei entfernte die Bilder erst, als sich der Vater eines Täters bei der Polizei beschwerte. Mediensprecher Kopp wehrt sich gegen den Vorwurf, dass das Bild zu lange aufgeschaltet blieb: «Der Schuldige selber hat nie zugegeben, dass er die Person auf dem Foto sei – obwohl er die Busse bezahlte. In der Befragung hat er alle Aussagen verweigert. Deshalb wurde das Foto nicht sogleich vom Internet genommen.» Der kantonale Datenschützer, Reto Fanger, möchte sich zu diesem konkreten Fall nicht äussern, sagt aber: «Grundsätzlich gilt, dass das Bildmaterial zu einer Person sofort entfernt werden muss, sobald sie als identifiziert gilt.» – In diesem Sinn hat die Polizei Luzern gegen das Datenschutzgesetz verstossen.

Zweifelhafte Bilanz

Der mutmassliche Verstoss gegen das Datenschutzgesetz bleibt am Ende nur ein Kapitel eines Verfahrens gegen Fussballfans, das in der Schweiz in dieser Grössenordnung bis jetzt einmalig ist. Von den ursprünglich 66 gesuchten Personen wurden nur 22 rechtskräftig verurteilt. Die Bilder von insgesamt 34 jungen Erwachsenen blieben während Monaten mit dem Vermerk «Randalierer» im Internet. Lediglich die Hälfte davon konnte die Polizei identifizieren und rechtmässig verurteilen. Von der Fahndung dürften aufgrund der Verwechslungsgefahr noch mehr Menschen betroffen gewesen sein. Der WOZ ist ein Fall bekannt, in dem jemand fälschlicherweise gemeldet wurde. Wenigstens erkannte das der ermittelnde Beamte bei der Vernehmlassung sofort.

«Ich würde mich nicht wehren, wenn ich mir einer Schuld bewusst wäre», sagt Mario Ziegler. Es dürfe sich niemand beklagen, wenn er wegen einer Sachbeschädigung zur Rechenschaft gezogen werde. «Doch es kann doch nicht sein, dass man dafür öffentlich so blossgestellt wird. Vor allem nicht, wenn man auch noch unschuldig ist, oder?», fragt er rhetorisch. Er wägt noch ab, ob er das Rayon- und das Stadionverbot weiter anfechten soll – sie wären wohl ohnehin abgelaufen, bis das Verfahren abgeschlossen ist. Das Vertrauen in die Justiz hat Mario Ziegler auf jeden Fall verloren.

* Name geändert.

Pranger nach «Tanz dich frei»

Die Kantonspolizei Bern plant, Bilder von zahlreichen Personen zu veröffentlichen, die anlässlich der «Tanz dich frei»-Demonstration Sachbeschädigungen begangen haben sollen. Sie kündigt «die grösste im Kanton Bern je durchgeführte Öffentlichkeitsfahndung» an. Veranlasst hat diese Massnahme die Berner Staatsanwaltschaft.

Die Kantonspolizei wird die Bilder erst am kommenden Montag veröffentlichen, um den gesuchten Personen «im Sinne eines verhältnismässigen Vorgehens unter grösstmöglicher Wahrung der Persönlichkeitsrechte die Möglichkeit zu geben, sich vorher zu melden», wie Polizeisprecherin Corinne Müller sagt.