Marlen Chuzijew: Als das Schmelzwasser von den Moskauer Dächern tropfte

Nr. 24 –

Er ist eine lebende Filmlegende. Der 88-jährige georgische Regisseur Marlen Chuzijew wurde mit seinen Tauwetterfilmen um 1960 berühmt: «Iljitschs Tor» und «Juliregen» gelten als Klassiker. Nun war er zu Gast in Basel.

Etwas erschöpft wirkt er schon. Marlen Chuzijew, 88-jähriger Altmeister des sowjetischen Films, sitzt im Foyer des Basler Stadtkinos. Den ganzen Vormittag war er voller Energie; kaum hielt es den quirligen alten Herrn auf seinem Stuhl. Während des öffentlichen Workshops über sein Lebenswerk stand er immer wieder auf, unterbrach die Moderation, scherzte und gab eine Anekdote nach der anderen zum Besten. Während der Vorführung seines Klassikers «Juliregen» (1967) tapste er mehrfach zur Saaltür, um die Kuratorin anzuweisen, den Ton lauter zu drehen, man höre die Musik kaum.

Eingeladen wurde Chuzijew von den OrganisatorInnen des Filmfestivals Bildrausch, das dieses Jahr vom 29. Mai bis 2. Juni zum dritten Mal stattfand. Es ist ihnen hoch anzurechnen, dass es ihnen gelungen ist, den als öffentlichkeitsscheu geltenden Filmregisseur zu überreden, dem Publikum persönlich einen vertieften Einblick in sein Schaffen zu geben. Im Rahmenprogramm richteten sie die bisher grösste Retrospektive seines hierzulande kaum bekannten Werks aus.

«Das war für mich eine grosse Überraschung», sagt Chuzijew im Gespräch mit der WOZ. Noch heute ist er aktiv. In Basel präsentierte er auch sein aktuelles Projekt, «Unvergänglich», einen filmischen Dialog zwischen den Schriftstellern Leo Tolstoi und Anton Tschechow über die «ewigen Fragen» der russischen Geschichte.

«Eine Zeit grosser Hoffnungen»

Geboren wurde Chuzijew 1925 in Tiflis, in der damaligen Sowjetrepublik Georgien. Seine Eltern stünden für die Zerrissenheit der Gesellschaft in der Revolutionszeit, sagt er: Die Mutter, eine Schauspielerin, stammte aus einer zaristischen Offiziersfamilie – der Vater war überzeugter Kommunist. Bei der Namensgebung des Sohns hatte der revolutionäre Geist obsiegt: Marlen ist ein Akronym aus Marx und Lenin. Ein schwerer Schicksalsschlag traf die Familie im Terrorjahr 1937, als der Vater, wie so viele treue Parteimitglieder, den stalinistischen Säuberungen zum Opfer fiel. 1945 begann Chuzijew sein Studium an der Staatlichen Filmakademie in Moskau, später arbeitete er in den Studios von Odessa. Mit seinem Spielfilmdebüt «Frühling an der Saretschnajastrasse» landete er 1956 einen ersten grossen Erfolg. Er kehrte in die sowjetische Hauptstadt zurück und begann mit der Produktion von «Iljitschs Tor» (1959 bis 1962).

Schmelzwasser tropft von den Dächern. Freudig rennen Schulkinder den Häuserfassaden entlang über den nassen Asphalt und klopfen mit Stöcken angetaute Eisblöcke aus den Fallrohren der Regenrinnen. Es ist 1. Mai in Moskau, und auf den Strassen formiert sich ein Demonstrationszug als buntes Frühlings- und Volksfest mit Fahnen, Transparenten, Blumen, Blas- und Akkordeonmusik. Diese Szene aus «Iljitschs Tor» symbolisiert eine Periode der sowjetischen Geschichte, die in Anlehnung an einen Kurzroman Ilja Ehrenburgs den Namen «Tauwetter» erhielt. «Das war eine Zeit grosser Hoffnungen», sagt Chuzijew.

1953 war Josef Stalin, der die Sowjetunion zwanzig Jahre lang mit beispiellosem Terror beherrscht hatte, gestorben. Der neue Parteisekretär Nikita Chruschtschow leitete den Prozess der «Entstalinisierung» ein, prangerte Stalins Verbrechen an, liess Millionen Opfer seines Gewaltregimes öffentlich rehabilitieren. Reformprojekte wurden angegangen, und aus dem Leben der Menschen verschwand die allgegenwärtige Angst. Kunst und Kultur erfuhren in der Tauwetterperiode eine zögerliche Liberalisierung. Endlich schienen die Menschen darüber sprechen, schreiben und singen zu können, worüber sie bis anhin hatten schweigen müssen. Schon Ende der sechziger Jahre sollte die Gesellschaft allerdings wieder in einer langen Phase eisiger Stagnation erstarren.

Filmpremiere ohne Regisseur

«Iljitschs Tor», benannt nach einem Moskauer Bezirk, war der Schlüsselfilm der Tauwettergeneration. Er handelt von drei jungen Freunden, die sich täglich nach der Arbeit treffen, um die Häuser ziehen, hübschen Frauen nachsteigen, in Innenhöfen und Wohnzimmern zu US-amerikanischem Dixieland und Blues tanzen. Gleichzeitig stehen die drei auch vor gewichtigen Fragen, die das Leben stellt. Sie streben nach Orientierung, moralischem Halt und Wahrhaftigkeit.

Die Entstehungsgeschichte von «Iljitschs Tor» spiegelt die Ambivalenzen der Tauwetterperiode. Mit Charme und Schalk berichtet Chuzijew von den Filmsets dieser längst vergangenen Zeit: über den eigens für den Dreh organisierten Literaturabend im Polytechnischen Museum mit den Dichtern und Barden, die der jungen Generation damals eine Stimme verliehen; darüber, wie seine Schüler von der Filmakademie, die ihm als Komparsen dienten (darunter der spätere Starregisseur Andrei Tarkowski), die Drehpause um Stunden überschritten, um im Café mit einer schönen Schauspielerin zu flirten; auch über das Plansoll an Filmmetern, die sie täglich abzudrehen hatten, um den Vorgaben der Filmfunktionäre zu genügen, die gleichzeitig hinter jedem Detail versteckte Systemkritik witterten. Chruschtschow höchstselbst monierte, er erkenne in den ProtagonistInnen kein wirklichkeitsgetreues Abbild der Sowjetjugend.

Als der Film 1965 endlich in einer zensurierten Version unter dem Titel «Ich bin zwanzig» in Moskau Premiere feiern konnte, war Chuzijew selbst nicht eingeladen. Erst als Federico Fellini den «armen Kollegen» kennenlernen wollte, erzählt Chuzijew, habe er zur Festgemeinde stossen dürfen. Am Filmfestival von Venedig erhielt «Ich bin zwanzig» den Spezialpreis der Jury. Die ursprüngliche Fassung durfte erst Ende der achtziger Jahre gezeigt werden.

Dokumentarische Porträts Moskaus

Das «richtige Leben», so Marlen Chuzijew, habe er mit seinen Spielfilmen einfangen wollen – unaufgeregt, unmittelbar und authentisch. Zuweilen sind es eigentliche dokumentarische Porträts Moskaus und seiner BewohnerInnen. Im Auftakt zu «Juliregen» fährt die Kamera minutenlang der Menge von PassantInnen in der Innenstadt entlang, bevor sie Lena wie zufällig aus der Menge herausgreift und zur Heldin ihrer Geschichte macht.

Am Ende des Films blicken junge Charaktergesichter vor dem Bolschoitheater als unwissende StatistInnen lange unverblümt mitten ins Kinopublikum. Das war etwas gänzlich Neues in der schablonenhaften sowjetischen Filmlandschaft. «Was ist das für eine sonderbare Sache», hätten sich die Funktionäre gewundert. Sie versuchten zu begreifen, sagt Chuzijew, doch sie verstanden es nicht.

«Ich mag Probleme nicht überbetonen», beschliesst der Doyen des Tauwetterfilms das Gespräch. «Die Konflikte sind tief in uns drin versteckt, jeder versteht und gewichtet sie anders.» Er habe den Leuten nicht vorschreiben wollen, worin sie moralischen Rückhalt für ihr Leben finden sollen. «Ich stellte nur die Frage nach der Suche, gab ihnen einen Stups: Geht los, sucht, und findet den Weg für euch selbst.»