Obsessionen des Alltags: Von der Damenbinde bis zur Kirche

Nr. 24 –

Andrea Roedig geht weiter, wo andere stehen bleiben – wenn sie das Alltägliche beobachtet und wenn sie denkt. Ihre Texte sind ein Glücksfall.

Andrea Roedig hat so eine Art, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Da tun sich Abgründe auf, schwindelerregend. «Er ist ein Kindheitstrauma», schreibt sie an einer Stelle, «selber erwachsen werden, ist die einzige Chance gegen ihn.» Wenn er kommt, wird die Luft seltsam wattiert, er macht alles leiser, gedämpfter, langsamer. «Grausamste» Pflichten stehen an – Röckchen, kratzige Wollstrumpfhosen –, ebenso «halbtote Angelegenheiten» wie der Spaziergang in den Wald. Erst gegen 18 Uhr winkt Erlösung: Sie hat die Gestalt von Hoss, Adam, Little Joe und dem alten Cartwright. «‹Bonanza›», schreibt Roedig, «befreite vom Sonntag.»

Und man möchte jauchzen als Kind der siebziger Jahre: Genau so spielte sich das Ritual von Qual und Erlösung ab, auch in Schweizer Familien.

Wo das Intime politisch wird

Es gibt wenige Bücher, die einem so ans Herz wachsen. Und das immer wieder von Neuem. «Über alles, was hakt» versammelt 45 Essays, Glossen und Reportagen, mit denen Andrea Roedig die LeserInnen von «taz», «Freitag» oder «Standard» seit der Jahrtausendwende beglückt hat. Nun gut, vorausgesetzt, man schätzt es, von einer geistreichen Frau, die ihre Worte an einem messerscharfen Verstand auf maximale Präzision geschliffen hat, durch die «Obsessionen des Alltags», wie es im Untertitel heisst, geführt zu werden. Gemeint sind nicht nur kratzende Wollstrümpfe, sondern all die Dinge, die in unserem Alltag zentral und gleichzeitig irritierend widerständig sind: von der Damenbinde bis zur katholischen Kirche.

Roedig wagt sich in die intimsten Bereiche vor. Es beginnt mit dem Blick durch den Briefkastenschlitz. Dort liegt eines dieser Zettelchen, wie wir sie alle schon rausgefischt haben: «Hellseher, Medium, löse ihre dringenden und diskreten Probleme. Sex, Krankheiten, Böser Blick und spezielle Fälle.» Achtlos weggeworfen. Doch was macht Andrea Roedig? Sie sucht «Professor Malou» in seiner schäbigen Einzimmerwohnung auf und beschreibt, was sich bei Kerzenschein und zwischen rohen Eiern abspielt.

Ihre Texte kreisen immer wieder um Begehren, Erotik und Sex, um Lust und Scham, um Pornografie, aber auch um Macht und Gewalt, Folter und Martyrium. Mal greift sie lustvoll zum feministischen Seziermesser, wie in der Glosse «Männer fischen», in der sie «Europas grösste Anglerzeitschrift» linguistisch und statistisch haarklein auseinandernimmt. Was dem Mann sein mit beträchtlicher «libidinöser Energie» betriebenes Hobby, ist der Frau «die wunderbare Welt des Nagelstudios» in «Get nailed!».

Der feministische Zweihänder ist ihr Ding nicht, aber Andrea Roedigs Tonfall ändert sich, wo das Intime politisch wird. Wie in der Affäre Dominique Strauss-Kahn: Hier macht die in Wien lebende deutsche Journalistin und Philosophin klar, dass es im Kern nicht darum geht, wer lügt und wer die Wahrheit sagt, wer Opfer und wer Täter ist. Sondern um Machtverhältnisse: «Wenn ein 62-jähriger superreicher IWF-Chef mal eben ein 32-jähriges migrantisches Zimmer‹mädchen› (werden Putzfrauen nicht erwachsen?) beschläft, muss man nicht lange darüber nachdenken, was mit der Formulierung ‹einvernehmlicher Sex› gemeint sein könnte», schreibt sie. «Sex ist ein Tauschmittel in bestehenden Klassen- und Rassenhierarchien. Dass die Frau ‹lügt›, gehört ebenso zum Spiel wie die Tatsache, dass die Regeln des Spiels von anderen gemacht werden.»

Was ist Henne, was Ei?

Eine besondere Obsession scheint Roedig gegenüber der katholischen Kirche und ihrer «Triebökonomie» zu hegen. In «Always ultra» – nein, das ist nicht der Text über Damenbinden – seziert sie ein päpstliches Papier über die Zusammenarbeit von Mann und Frau. Eingangs als «ein Relikt von nur archäologisch zu nennendem Wert» betitelt, gipfelt ihre subversive Analyse in der These, das katholische Christentum propagiere deviante Formen von Geschlechtsidentität, widme sich aber eigentlich der queeren Dekonstruktion.

Mit besonderem Furor entlarvt Roedig auch die Ambivalenz des christlichen Martyriums in seiner Verschmelzung mit Sadomasochismus und Folter, Pornografie und Ekstase. Was ist Henne, was Ei? «Nur was weh tut, ist richtig gut», heisst es auch in einem Essay über Schopenhauer und den Begriff der Resignation. Am beeindruckendsten aber ist Roedig, wo sie als vollkommen unvoreingenommene Interviewerin ein Sadomasopaar dazu bringt, über seine Beziehung nachzudenken. Oder wo sie sich so weit zurücknimmt, dass man die Geschichte eines Jugendlichen, der von einem pädophilen Priester jahrelang missbraucht wurde, allein aus seinem Mund vernimmt.

Die meisten journalistischen Texte altern schlecht. Roedigs Essays und Reportagen gehören nicht dazu. Schön, sind sie nun in einem Band versammelt, den man immer wieder hervornehmen kann.

Andrea Roedig: Über alles, was hakt. Obsessionen des Alltags. Klever Verlag. Wien 2013. 256 Seiten. Fr. 28.40