Puntland, Somalia : Piraten im Dorfkino

Nr. 24 –

Die Regierung von Puntland im Norden Somalias hat der Piraterie ein Ende bereitet. Doch damit gerät die Region in Vergessenheit, Hilfsgelder drohen zu versiegen. Und bereits brechen neue Konflikte aus.

«Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich eine Heimat»: Khadija Guureeye Abtidon, jahrelang auf der Flucht, vor ihrem neuen Haus in Garowe, der Hauptstadt von Puntland.

Der Himmel über Garowe ist wolkenlos. Die Sonne brennt. Trotz der Hitze drängeln sich an diesem Morgen Hunderte auf dem staubigen Platz am Rand der Stadt im Norden Somalias. Ein paar besonders Ausgelassene tanzen zum wirbelnden Rhythmus, den ein Mann auf seiner Felltrommel erzeugt.

Dann schlägt die Stimmung plötzlich um. Polizisten tauchen auf und prügeln das Publikum mit Holzstöcken hinter eine unsichtbare Linie zurück. Die Musik stoppt. Vom Ende der Piste nähert sich eine Staubwolke. Herzschläge später rasen Pritschenwagen durch die Menge, auf ihren Ladeflächen Soldaten mit Sonnenbrillen und Maschinengewehren. Sie sichern den Platz gegen unsichtbare GegnerInnen, bevor ein silberner Geländewagen vorfährt. Auf seiner Motorhaube flattert Puntlands Fahne im Wind, blau-weiss-grün quer gestreift mit weissem Stern auf blauem Grund.

Weder die Fahne noch der Staat sind international anerkannt. Doch das macht Abdirahman Muhammad Farole, dem Präsidenten Puntlands, nichts aus. Staatsmännisch steigt er aus dem Fond und schreitet gemessenen Schrittes zum ledernen Schreibtischstuhl, der auf der improvisierten Bühne für ihn bereitsteht. Jubel und Musik erschallen, während sich Faroles Leibgarde strategisch verteilt.

Sicher im eigenen Haus

Auf der anderen Seite der unsichtbaren Linie steht Khadija Guureeye Abtidon. Die Fünfzigjährige trägt ein Kleid mit weissen Sternen auf blauem Grund. Die brutalen Polizisten stören sie nicht: Ihr ist zum Feiern zumute. «Ich besitze jetzt ein Haus, zum ersten Mal in meinem Leben habe ich eine Heimat», freut sich die Flüchtlingsfrau. 1995 war sie vor dem Bürgerkrieg in Somalias Hauptstadt Mogadischu geflohen, erst nach Äthiopien, dann hierher.

Insgesamt 600 Häuser hat die evangelikale Hilfsorganisation World Vision in der Neubausiedlung Jilab gebaut, mit Geld aus Deutschland und den USA. In ihnen wohnen die bedürftigsten Familien, je zur Hälfte PuntländerInnen aus Garowe und Flüchtlinge wie Guureeye. «Ich kann jetzt abends ins Haus gehen, ohne Angst zu haben, in der Nacht vergewaltigt zu werden», sagt sie glücklich. Acht Kinder hat die resolute Frau zur Welt gebracht, zwei sind auf der Flucht gestorben.

Vor fünf Jahren ist Guureeye in Garowe gelandet, in einem Flüchtlingslager mit Hütten aus Stofffetzen, plattgedrückten Blechkanistern und Plastiksäcken. «Vergewaltigung ist da alltäglich gewesen, niemand hat das bei der Polizei angezeigt – und wenn doch, dann ist nichts geschehen.» Das, sagt Guureeye, sei jetzt anders. Im neuen Haus sind ausserdem selbst ihre spärlichen Besitztümer sicher: zwei Plastikstühle, ein klappriger Tisch, ein Bett und ein grüner Plastikvorhang an der Tür. «Wenn ich in die Stadt gehe, um dort als Wäscherin zu arbeiten, kann ich jetzt die Tür abschliessen, und niemand kann etwas stehlen.» Für Guureeye ist ihr Haus der sichere Hafen: Von hier, sagt sie, will sie nicht noch einmal fort – selbst dann nicht, wenn der brüchige Frieden in Mogadischu halten sollte.

Kurz darauf war der Spuk vorbei

Allerdings ist der Ruf von Puntland ruiniert. Berühmt-berüchtigt wurde der Landstrich als Piratenbasis. Von Puntlands Küste zogen mit Maschinengewehren und Raketenwerfern bewaffnete Seeräuber aus, um europäische Frachter zu kapern und sie nur gegen hohe Lösegelder freizugeben. Über 130 Millionen Euro sollen Puntlands Piraten 2011 mit der Entführung von 275 Schiffen verdient haben, trotz Patrouillen der Nato und der EU. Die Piraten hatten einfach ihr Operationsgebiet ausgeweitet, bis vor Madagaskars und sogar Indiens Küste. Regierungen machten daraufhin ihre Aufwartung in Garowe: Sie baten Präsident Farole um seine Mithilfe im Kampf gegen die Piraterie und boten im Gegenzug Hilfe an. Kurz darauf war der Spuk vorbei. Zurzeit halten somalische Piraten gerade noch zwei Schiffe fest, aber nicht in Puntland, sondern südlich der Grenzlinie zu Somalia.

Seit vergangenem Jahr sind in Puntlands Hauptstadt, in der rund 60 000 Menschen leben, so viele Hotels, Restaurants, Autovermietungen und Dienstleistungsbetriebe entstanden wie nie zuvor. Ihre KundInnen sind vor allem Uno-Angestellte, MitarbeiterInnen von nichtstaatlichen Organisationen und auch jene, die durch diese neuen BewohnerInnen Jobs bekommen haben.

Weshalb genau die Piraten an Puntlands Küste verschwunden sind, kann oder will niemand sagen. Abdinasir Muhammad Yusuf, der für das unabhängige Puntländische Forschungszentrum für Entwicklung arbeitet, macht sich selbst ein bisschen mitverantwortlich. «Wir haben eine Tour durch die Dörfer gemacht, aus denen die jungen Piraten gekommen sind – Dörfer, die weit weg von der Hauptstrasse liegen, wo die Regierung nie auftaucht.» Dort pumpte Yusuf auf dem Dorfplatz erst eine riesige Leinwand aus Gummi auf. Darauf zeigte er nach Einbruch der Dunkelheit einen selbst zusammengeschnittenen Film, der auf drastische Weise die Gefahren des Piratenlebens zeigte.

«Die Dorfbewohner, allen voran die Mütter oder die Ältesten, hatten keine Ahnung, dass ihr Nachwuchs auf hoher See von Marineeinheiten beschossen oder verhaftet werden konnte», sagt Yusuf. «Erst durch den Film und die anschliessende Diskussion haben sie erfahren, wie schrecklich das Piratenleben in Wirklichkeit ist.» Bis dahin, sagt Yusuf, kannten die BewohnerInnen nur die guten Seiten des Geschäfts: Geld, das in die Dörfer floss, wenn auch nur wenig im Vergleich zu dem, was die Hintermänner abschöpften. «Wir hatten sogar Piraten im Publikum sitzen, die nach dem Abend aus Angst vor den Folgen aufgehört haben.»

Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Und tatsächlich teilen nicht alle Yusufs Einschätzung, auch wenn sie seine Arbeit loben. «Präsident Farole stammt aus Eyl», erklärt ein Somalier, der früher die deutsche Bundeswehr beraten hat. Eyl ist das einst verrufene Piratennest an Puntlands Küste. «Faroles Clan hat schlicht dafür gesorgt, dass die Piraterie aufhört, weil es sich für ihn gelohnt hat.» Staatsgeschäfte, Clangeschäfte und die Geschäfte des Präsidenten hängen eng zusammen. Zum Beispiel die Marineeinheit, die Farole 2011 aufbauen liess und die die Piraterie bekämpfen sollte: Faktisch ist sie heute Faroles Leibgarde. Auch auf dem Platz in Garowe sind es Faroles Marines, die ihn schützen.

Als in Garowe die Musik verstummt und die Grussworte gesprochen sind, hält Farole seine Rede. Nach einem Dank an die HelferInnen aus dem Ausland nutzt er die Gelegenheit, um der Zentralregierung in Mogadischu zu drohen. «Die Regierung muss sich an den Fahrplan für den Frieden halten und darf nicht ohne unsere Einwilligung irgendwelche Änderungen vornehmen», wettert er. «Diese Änderungen verstehen wir als direkte Bedrohung.»

Der Präsident braucht dringend Geld

Faroles Planungsminister Ahmed Ibrahim Abdirahman wird im Interview mit der WOZ noch deutlicher: «Die Regierung in Mogadischu missbraucht ihre Macht, und wenn sie das weiterhin tut, können jederzeit neue Kämpfe ausbrechen.» Faroles Regierung steht mit dem Rücken zur Wand: Seit es in Mogadischu wieder eine international anerkannte Regierung gibt (vgl. «Gefährlicher Zentralismus» im Anschluss an diesen Text), fliessen immer mehr ausländische Hilfsgelder an die Zentralregierung. Eigentlich sollte diese die Gelder weiterverteilen. «Doch es gibt kein Vertrauen zwischen Mogadischu und den Regionen – daran ist Somalia schon einmal gescheitert, nur hat der Westen das anscheinend nicht verstanden», sagt Abdirahman. Seit keine Schiffe mehr gekapert werden, ist Puntland zudem aus dem Bewusstsein der meisten Geberländer verschwunden. Schon argwöhnen manche, die Piraten müssten zurückkehren, um die Staatseinnahmen zu erhöhen.

«Die Angst ist gross, dass der Aufschwung in Mogadischu ein Ende des kurzen Booms hier in Puntland zur Folge hat», sagt auch Jeremiah Kibanya, der die Arbeit von World Vision in Puntland koordiniert und den Autor dieses Artikels bei seiner Recherche unterstützt hat. Es gibt nur wenige Hilfsorganisationen in Puntland, obwohl die Bevölkerung in Not ist. Für die gut 3,9 Millionen EinwohnerInnen stehen gerade einmal hundert Ärzte zur Verfügung. Das Gesundheitsministerium besitzt nur ein Auto, um entlegene Regionen zu erreichen. «Manche Dörfer sind mehrere Tage Fahrt entfernt – Hilfe dorthin zu bringen, ist ein riesiges Problem», sagt Kibanya. Spielräume hat die Regierung kaum, denn die eigenen Einnahmen sind verschwindend gering. Dazu kommt die Korruption. Loyalitäten sind kurzlebig. «Wenn Faroles Regierung nicht mehr liefert», warnt der Somaliakenner, «dann ist sie so schnell weg, wie sie gekommen ist.»

Gerade erst hat Präsident Farole die geplanten Wahlen verschoben, angeblich wegen technischer Probleme. Doch tatsächlich steigt der Druck auf ihn. Die Islamisten der Schabab-Milizen sollen über Rückzugsräume in den Bergen 200 Kilometer nördlich von Garowe verfügen. Sie könnten die Schwäche Faroles ebenso nutzen wie feindliche Clans und selbst ehemalige Piraten, die nun immer häufiger MitarbeiterInnen von Hilfsorganisationen entführen. Farole braucht daher Geld – dringend. Denn im Kern geht es in Somalia ums Geschäft. Läuft es nicht, droht Krieg. Deshalb hat Farole keine Zeit zu verlieren. Kurz nach seiner Rede steigt er wieder in den Geländewagen.

Als sich die Staubwolke verzogen hat, geht Guureeye zurück zu ihrem neuen Haus. Heute ist sie glücklich. Doch ob ihr neues Haus tatsächlich der sichere Hafen ist, für den sie es hält, wird sich erst noch zeigen müssen.

Marc Engelhardt berichtet seit zehn Jahren aus Somalia. Vor kurzem ist sein Buch «Somalia. Piraten, Warlords, Islamisten» im Brandes & Apsel Verlag erschienen.

Gefährlicher Zentralismus

Erst seit September 2012 hat Somalia wieder einen gewählten Präsidenten – nach über zwanzig Jahren Bürgerkrieg. Hassan Scheich Muhammad wurde zunächst als Hoffnungsträger gehandelt. Mogadischu blüht derzeit auf. Verantwortlich dafür sind nicht nur Fördergelder aus dem Ausland, sondern auch Exilsomalis, die in ihre Heimat zurückkehren. Die islamistische Schabab-Miliz wurde von afrikanischen Eingreiftruppen aus der Hauptstadt vertrieben, als besiegt gilt sie aber nicht.

Scheich Muhammad fährt zudem einen gefährlichen Kurs, indem er ein zentralistisches Somalia anstrebt. Provinzfürsten wie Puntlands Präsident Abdirahman Muhammad Farole hat er sich damit ebenso zum Feind gemacht wie viele einflussreiche Warlords, die ihren Clans mehr Einfluss und Geschäfte verschaffen wollen.

In Jubaland, der Provinz rund um die reiche Hafenstadt Kismayo wird seit letztem Wochenende gekämpft. Es soll mindestens achtzehn Tote geben, Hunderte sind auf der Flucht. Scheich Muhammad hatte sich zuvor geweigert, eine dort ernannte Regionalregierung anzuerkennen.