Treibhaus Richard Wagner: Schnupfender Gnom mit Bombentalent und schäbigem Charakter

Nr. 24 –

Richard Wagners Musik fasziniert, seine antijüdische Haltung schreckt ab. Das Collegium Novum sucht in Werken zeitgenössischer Komponisten nach Wagners Einfluss und seinen Spuren.

«Ich kann mich halt doch nicht mit diesem wichtigtuerischen, närrischen Pathos befreunden, durch das sich andauernd neudeutsche Ideologie und Mentalität bemerkbar machen, ein imperialistisches Dräuen, etwas militant Nationalistisches, unangenehm Heterosexuelles und Arisches …» Der vor einem halben Jahr verstorbene Komponist Hans Werner Henze notierte diese Worte 1965 nach einem Besuch von Richard Wagners «Götterdämmerung».

Verminderte Quinten

Diese Reaktion ist kaum erstaunlich, denn der unter dem «Dritten Reich» aufgewachsene Antifaschist Henze verband mit Wagner (1813–1883) auch die Hochkultur der Nazis. Und doch hat Henze diese Musik auch inspiriert: «Eines Morgens im Frühling 1972 komponierte ich in wenigen Stunden ein ausgedehntes Klavierstück. Das thematische Material, das darin zur Sprache kam, Halbton- und Sextenschritte, dazu in der Vertikale Quartenakkorde und insbesondere verminderte Quinten, bezieht sich in der Erinnerung fern auf einen konkreten Gegenstand, nämlich die wagnersche Tristan-Musik.»

Aus diesem Klavierstück entwickelten sich alsbald die Préludes für Klavier, Tonbänder und Orchester mit dem Titel «Tristan». Später hat Henze die berühmten Wesendonck-Lieder für kleines Orchester bearbeitet und schliesslich sogar die wenig bekannten Klavierlieder Wagners in einem Zyklus orchestriert – nicht ohne bei diesen frühen Kompositionen gelegentlich korrigierend einzugreifen. Er versuchte, «die oftmals im Klavierpart versteckten, dort nur andeutungsweise erfahrbaren Schönheiten dieser Musik ans Tageslicht zu heben und sie in ihrem ganzen Reichtum entfachen und erstrahlen zu lassen». Diese Bearbeitung ist am Samstag, 14. Juni, mit dem Tonhalle-Orchester unter David Zinman im Rahmen der Festspiele Zürich zu hören.

Das Collegium Novum Zürich seinerseits stellt Henzes «Tristan» an den Anfang seines Festwochenkonzerts mit dem Titel «Wagner-Idyll?». Es macht mit dem Titel deutlich, dass dieses Idyll trügerisch sein muss – wir haben keinen idyllischen, sondern einen gestörten Blick auf Wagner. Schon 1911 schrieb Thomas Mann in einem Brief vom «schnupfenden Gnom aus Sachsen mit dem Bombentalent und dem schäbigen Charakter». Er hat Wagners Musik zeitlebens bewundert. Das ist genau der Punkt: Wagners Kunst fasziniert immer noch – oder sie stösst ab, vor allem seine Persönlichkeit und schliesslich seine Äusserungen. Seine berüchtigtste Schrift, «Das Judenthum in der Musik», entstand 1850 im Zürcher Exil.

Gefährliche Faszination

Auf jeden Fall fordert Wagner die Auseinandersetzung heraus – gerade bei jenen, die seine Musik lieben, sich sonst aber nicht blind stellen möchten. Unzweifelhaft aber sind die Folgen für die Musikgeschichte, allein durch das Vorspiel zur Oper «Tristan und Isolde» mit dem berühmten Tristan-Akkord. Damit stiess Wagner gleichsam die Tür zu einer freien, chromatischen Tonalität oder sogar Atonalität auf; die Musik Arnold Schönbergs zum Beispiel ist ohne Wagner nicht denkbar. «Tristan und Isolde» sei, wie Friedrich Nietzsche schrieb, eine Oper «von gleich gefährlicher Faszination, von einer gleich schauerlichen und süssen Unendlichkeit» – und sie hat fast alle in den Bann gezogen. Musik um 1900 definierte sich zu einem grossen Teil aus der Position zum «Tristan».

Diesen Spuren geht das Collegium Novum in seinem Programm nach. Es zeigt die weitere Entwicklung und die ferne Verwandtschaft. Zwei Liedwerke mit Ensemblebegleitung aus der atonalen Phase des Schönberg-Schülers Anton Webern erklingen. Eine ungewöhnliche Perspektive eröffnet sich mit der Musik des Franzosen Gérard Grisey, der 1998 mit 52 Jahren verstarb. Er ist eine der Hauptfiguren der sogenannten Spektralisten, die – vereinfacht dargestellt – durch das Studium der Obertonverhältnisse zu einer neuen Harmonik vordrangen. Das ist geradezu programmatisch in seinem Werk «Partiels» dargelegt: Aus einem tiefen Kontrabasston entfaltet sich hier allmählich ein obertonreicher, spektraler Klang. Solch exemplarisches Komponieren ist durchaus mit dem Beginn des «Tristan» vergleichbar.

Grisey war ein Musiker, der Mitte der siebziger Jahre auch gegen die ältere Avantgarde polemisierte. Er wollte wieder in den Klang eintauchen (was ihm nebenbei gesagt auf wunderbare Weise gelang). Auch dieses Verfahren ist durchaus mit jenem von Wagner vergleichbar. Im Konzert erklingen neben «Partiels» auch vier Lieder des Wagnerianers Hugo Wolf, die Grisey instrumentiert hat.

«Re-Visionen» von Wagner

Ein anderer Komponist, der sich in jenen Jahren daranmachte, das Potenzial vergangener Musiken neu aufzuarbeiten, ist Dieter Schnebel. Der Deutsche beschäftigte sich in einer Reihe von «Re-Visionen» mit der Musik Bachs, Beethovens, Schuberts, Weberns und natürlich auch Wagners. Er nahm den «Karfreitagszauber» aus der Oper «Parsifal», untersuchte diese scheinbar konturlose, schwebende Musik und spann «die unendlichen Melodien, Klangströme und Pulsationen aus – nicht im Breitwandspektrum des grossen Orchesters, sondern in kammermusikalischer Besetzung: in einer Klanglichkeit irgendwo zwischen den neueren Farben von Arnold Schönberg und Pierre Boulez».

Wagners Musik wird also durch die Moderne gefiltert; hinzu kommen «noch jugendlichere, fast westcoastartige Klänge». Und gleichzeitig zeigt uns Schnebel in seinem «Wagner-Idyll» gleichsam augenzwinkernd den «Parsifal» auch in seiner Zeitgebundenheit.

Festspiele Zürich: «Treibhaus Wagner», vom 
14. Juni bis 14. Juli 2013. www.festspiele-zuerich.ch

Das Collegium Novum spielt am Freitag, 28. Juni 2013, um 20 Uhr in der Zürcher Tonhalle.