Türkei: Wer glaubt Erdogan noch?

Nr. 24 –

Die türkische Regierung versucht, mit Gewalt einer Bewegung Herr zu werden, die sie nicht versteht. Weil die so ganz anders ist als frühere GegnerInnen.

Nach seiner Umgestaltung hätte er zum Symbol der neuen Türkei werden sollen – der Taksimplatz in Istanbul, der in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch von der Polizei geräumt wurde. Mit einer zum Einkaufszentrum umfunktionierten osmanischen Kaserne, mit einer riesigen Moschee, mit unterirdischen Schnellstrassen und Bushaltestellen sollte ein Platz entstehen, auf dem sich Modernität und islamischer Konservativismus treffen und der die Grösse und Machtfülle der neuen Türkei demonstriert. Doch aus diesem Plan wird wohl nichts werden. Für Grossprojekte dieser Art braucht es Ruhe und Sicherheit, nicht bürgerkriegsähnliche Zustände.

Aber ein Symbol ist der Taksimplatz schon jetzt. Ein Symbol dafür, was Ministerpräsident Tayyip Erdogan von Grundrechten wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit hält. Der repressive türkische Staatsapparat, von den Militärs nach dem Putsch 1980 errichtet, wird zwar nicht mehr von der Armee gesteuert, aber Dienstherr Erdogan geht genauso unzimperlich vor.

«Anarchisten» und «Marodeure»

In den Köpfen der Menschen werden die Bilder vom Taksim noch lange lebendig bleiben. Bilder von Polizisten, die gezielt Gaskartuschen auf einen Rollstuhlfahrer abfeuern, von Kindern, die unter der Gaswolke mit brennenden Augen nach ihren Eltern schreien, von den Krankenrevieren in den Lobbys der Fünfsternehotels, in denen Hunderte Verletzte Zuflucht suchen. «Wir werden in der Sprache reden, die sie verstehen», hatte Erdogan angekündigt – und dabei Tote in Kauf genommen. Die Wörter, mit denen er die DemonstrantInnen charakterisiert, stammen aus dem Arsenal der Militaristen: Die Kundgebungen seien eine «internationale Verschwörung», die TeilnehmerInnen allesamt «Anarchisten», «Terroristen», «Marodeure».

Ein anderes Bild vom Taksimplatz wird ebenfalls in Erinnerung bleiben: Fast zwei Wochen lang war er der Ort, wo türkische Jugendliche die Demokratie praktizierten. Wo sich «antikapitalistische Muslime» zum Freitagsgebet trafen, wo nebenan Frauen Yogaübungen ausführten, wo innerhalb eines Tages eine Bibliothek entstand, wo sich Fussballrabauken von Feministinnen belehren liessen, dass man keine sexistischen Sprüche klopft.

Es war der Platz, den die BesetzerInnen jeden Morgen bis zum letzten Zigarettenstummel säuberten, auf dem VeterinärInnen vom Gas und von Geschossen verletzte Strassenhunde und Katzen behandelten, auf dem ein Kurde einem nationalistischen Türken zeigte, wie man sich vor den Polizeigeschossen in Acht nimmt. Und zu dem Familien pilgerten, die sich zuvor nie für Politik interessiert hatten und noch nie an einer Demonstration waren, denn das dortige Kindertheater war «wirklich toll».

Seit über einem Jahrzehnt hat Erdogan durch demokratische Wahlen legitimiert die politische Macht inne. Er hatte leichtes Spiel gegen seine politischen GegnerInnen. Die alte kemalistische Elite, mit den Militärs verbandelt, hatte ihn zwar stoppen wollen. Sie hatte auch zentrale Stellen im Machtapparat besetzt gehalten, aber es fehlte ihr an einer starken politischen Basis. Sie wurde kaltgestellt, ehemalige Generalstabschefs sitzen heute hinter Gittern.

Gebete per Twitter

Erdogans harte Gangart könnte weitreichende Folgen haben. Als es noch gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK ging, konnte er mit traditionellen nationalistischen Reflexen («Sie wollen das Land spalten!») mobilisieren. Und doch musste er am Ende das Gespräch mit dem inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan suchen; zu stark war die organisierte politische Basis der Guerilla. In einem klandestinen Abkommen von Mann zu Mann sollte die kurdische Frage gelöst werden – ohne Transparenz, ohne Aufarbeitung der eigenen blutigen Geschichte.

Nach den Ereignissen der letzten Tage stellt sich die Frage der Glaubwürdigkeit. Kann die PKK den Friedensversprechungen eines Mannes vertrauen, der selbst friedfertige DemonstrantInnen niederknüppeln lässt? Der inhaftierte Öcalan hatte an die TaksimbesetzerInnen Grüsse geschickt und dabei gewarnt: «Wer mich instrumentalisieren und betrügen will, der täuscht sich.»

Erdogans Stärke bestand darin, dass er gegen die kemalistische Elite breite politische Bündnisse schmieden konnte. So gewann er Wahlen. Jetzt steht er vor einem Scherbenhaufen. Denn nun sind es die Jugendlichen vom Taksim, die ein breites Bündnis geschaffen haben – gegen den Autokraten, der offenbar nur noch um sich schlagen kann. Selbst AKP-Anhänger der ersten Stunde, engste Mitarbeiter von ihm, verschicken Botschaften auf Twitter: Sie beten für ihre Kinder auf dem Taksimplatz.