Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger: Meerschweinchen im Nationalpark

Nr. 27 –

Mit rosa Brille, Feldstecher und High Heels auf wilder Expedition: Ein Besuch im Bündner Kunstmuseum verspricht bis Ende Jahr unzählige Entdeckungen.

Es tropft durchs Dach auf den roten Teppich. Aber man darf ihn nicht verlassen, diesen roten Teppich, der durch Steiners und Lenzlingers «Nationalpark» führt wie die Wanderwege durch den Nationalpark im Engadin. Der rote Teppich leitet die BesucherInnen in Grotten, über Brücken und durch Höhlen, vorbei an Meerschweinchenställen, Karpfenteichen, Computerbergen und Salatköpfen, die auf Glaswollematten spriessen.

Für sechs Monate, vom längsten bis zum kürzesten Tag im Jahr, hat das KünstlerInnenpaar aus Uster im Bau einen Park angelegt. Die Seitenfenster sind teilweise ausgehängt. Es zieht. Wände und Isolationsmaterial wurden herausgerissen, die Milchglasscheiben des Oberlichts ausgebaut. Mit dem Abbruchmaterial und anderen Fundgegenständen wurden neue Berge aufgetürmt. Dazwischen steckt, spriesst und wächst allerlei Künstliches und Natürliches. Grossflächige Wandmalereien zeigen – wie Wolken – verblasene weisse Berge. Mit der Bohrmaschine wurden Reliefs in die Mauern gedrillt. In der Glaskuppel stehen die Fenster offen. Es regnet in den Park. Vom Gemäuer unter der Kuppel hängen Pflanzen herunter, und unter dem Dach zwitschert ein Spatz. Es ist ein grosses Spiel mit Irritationen. Auf dem roten Teppich steht ein Besucher. Er trägt einen Korb und prüft, ob die Blätter am Busch vor seiner Nase echt sind.

Im Reich der Sinne

Die Wanderung durch Steiners und Lenzlingers Nationalpark ist ebenso aufwühlend wie versöhnend, sowohl verstörend als auch belustigend. Aber zuerst muss man sich in der Requisitenkammer unten beim Eingang für die Expedition ausrüsten. Handtasche samt Hüftknochen, rosa Brille, Mondkarte oder Monstermaske, Rettungsring, High Heels oder eben ein Rotkäppchenkorb, wie ihn der Besucher ausgewählt hat, stehen zur Verfügung. Die Kinder wollen Fuchsschwanz und Feldstecher. Die Grosseltern Blumenbrille und Schnapsflasche. Es kann losgehen.

Bevor man aber in den Park kommt, zeigt sich den BesucherInnen im unteren Stock eine traditionelle Sammlung in Glasschaukästen. Hier haben die KünstlerInnen Fundstücke und Selbstkreiertes in wahnwitzigen Kombinationen zusammengestellt. Daneben sind knappe Erklärungen zu lesen. «Dieser Same ist ganz wahr. In ihm ist Zuverlässigkeit», heisst es neben wunderschönen Sämereien. Das Kleinkind zieht es zu einem mit Wasser beschlagenen Kasten. «Riech mal!», ruft es und hält die Nase an den Deckel. Steiner und Lenzlinger haben im Kasten einen bunten Kompost angelegt. Der modert in den nächsten Monaten vor sich hin. Man kann dabei zusehen. Nebenan heisst es: «Durch Menschen hervorgebrachte Artenvielfalt.» Papierblumen und verrostete Munition sind da zu sehen.

«Je weiter einer hinausgeht, desto geringer wird sein Wissen» steht zwischen den Sammelgegenständen. Und neben allerlei «Ausgefressenem» heisst es «Schlussgesellschaft». Künstliche Fingernägel in allen Grössen und Formen liegen daneben. Es sind «Verwilderungsversuche».

In der Mitte des Raums baumelt vom oberen Stock ein Wurzelgebilde in einen Teich, daran bilden sich aus einer Kunstdüngerlösung rosa Kristalle. An der Wand hängt eine grosse Schlangenhaut, und darum herum sind getrocknete Apfelschnitze drapiert. «Das grosse Bild hat keine Form» ist der Kommentar dazu. Die Kinder aber zieht es nach oben.

Vergänglichkeit und Neubeginn

«Es hat Nachwuchs gegeben», sagt die Nationalparkwächterin. Ein Meerschweinchen hat Junge gekriegt. Man kann die kleinen haarigen Büschel durch die rosa Brille oder mit dem Feldstecher vom roten Teppich aus beobachten. Ein grauer Wolf aus Kunststoff und eine Kobra wachen über die kleinen Nager. Bei den Meerschweinchen im Gehege nebenan steht mitten im Stroh ein grosses Meerschweinchenhaus, aus Holz gezimmert, mit hübsch geschmückter Fassade. Es ist ein Modell des künftigen Museumsbaus.

«Nationalpark» ist die letzte Ausstellung im Sulser-Bau. Bis 2016 soll hier nach den Plänen des spanischen Architekturbüros Barozzi/ Veiga ein Neubau entstehen. Das Bündner Kunstmuseum besteht aus zwei Bauten: der Villa Planta gegen die Bahnhofstrasse hin und dem Sulser-Bau dahinter. Dort waren bis 1981 das Naturmuseum und Nationalparkmuseum untergebracht. Die Ausstellung wird deshalb auch als letzte grosse Hommage an das Haus verstanden. Ende der achtziger Jahre wurden die Villa Planta und der Sulser-Bau restauriert und umgebaut. Federführend war die Architektengemeinschaft von Peter Zumthor, Peter Calonder und Hans-Jörg Ruch. Der rote Teppich reicht bis auf die von diesen Architekten entworfene Passerelle, die die beiden Häuser verbindet. Geranientröge, in denen Rasen spriesst, stehen zwischen demontierten Holzlatten am Rand. Verblühte Löwenzahnblumen sind aufgehängt.

Das Kleinkind bestaunt einen grossen Handystrauss, der aus dem Geländer einer Aussichtsplattform wächst. Die Mutter ist beeindruckt vom Nilpferd, das aus dem Mikrowellenherd schaut, und das Schulkind findet lapidar: «Man könnte Jahre hier drin bleiben. Immer wieder findet man etwas Neues.» Am Wegrand liegen Samen bereit. Auch sie werden bis zum kürzesten Tag noch keimen.

Die Ausstellung «Nationalpark» von 
Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger im Bündner Kunstmuseum in Chur dauert bis 
zum 21. Dezember 2013. 
www.buendner-kunstmuseum.ch