Syrien und die Assyrerinnen: Militärische Hilfe aus der Schweiz

Nr. 27 –

Wie andere Minderheiten baut auch die christlich-assyrische Gemeinschaft eine Truppe auf, um sich im Bürgerkrieg zu behaupten. Die assyrischen Kräfte lavieren zwischen der Opposition und dem Regime und tragen zur Auflösung Syriens bei.

Vor etwas über einem Jahr beschloss Emmanuel Lamsa*, die Idylle der Schweiz zu verlassen und in die Heimat seiner Grosseltern, in den Nordosten Syriens, zu ziehen. «In dieser entscheidenden Phase im syrischen Konflikt wollte ich meinem Volk beistehen», sagt der 32-Jährige. Lamsa entstammt einer von rund 1500 assyrischen Familien in der Schweiz. Bei der Schweizer Armee war er fünf Jahre lang Instruktor und spezialisierte sich auf Häuserkampf. Nun ist er in der Stadt Kamischli im syrischen Obermesopotamien auf bestem Weg, Anführer einer neuen christlichen Miliz zu werden.

Gespaltene ChristInnen

In den Gebieten, die noch vom Regime von Baschar al-Assad kontrolliert werden, geniessen die KurdInnen wie auch die assyrischen ChristInnen eine noch nie dagewesene Freiheit, Organisationen zu bilden – denn beide Gemeinschaften halten sich von einer offenen Konfrontation mit dem Regime fern. Heute leben rund 1,2 Millionen AssyrerInnen in Syrien, das sind fünf Prozent der Gesamtbevölkerung. Die meisten assyrischen Familien flohen vor fast hundert Jahren aus der Türkei hierher. Sie sind Überlebende der Massaker, die ab 1915 vor allem durch die osmanische Armee verübt wurden.

«Wir fordern die verfassungsrechtliche Anerkennung der Assyrer; nicht als einer religiösen Gruppe, sondern als eines Volks», sagt Gabriel Musche Gawrieh, Präsident der Assyrischen Demokratischen Organisation (ADO). Diese Priorität teilt die ADO mit der zweiten wichtigen politischen Kraft der syrischen Christen, der Syriakischen Unionspartei (SUP). Ansonsten sind die beiden Kräfte tief gespalten und verhalten sich gegenüber Regime und Opposition in unterschiedlicher Weise opportunistisch.

Die ADO ist Teil des grossen Oppositionsbündnisses, der Nationalen Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte. Die SUP – die neben den eigentlichen AssyrerInnen sämtliche syrische ChristInnen ausser den ArmenierInnen vertreten will – bleibt dem Oppositionsbündnis wegen der Dominanz der Muslimbruderschaft fern. Auch mit dem Regime gehen die beiden assyrischen Kräfte unterschiedlich um. Die ADO will keine assyrische Streitmacht auf die Beine stellen, weil sie die Reaktion des Regimes fürchtet. Die SUP unterstützt hingegen die Syriakische Streitmacht (Sutoro) – die christliche Miliz, die Emmanuel Lamsa nun ausbilden soll.

Der Schweizer spricht gut Aramäisch (die assyrische Liturgie- und Alltagssprache) und hat inzwischen in Syrien auch etwas Arabisch gelernt. Lamsa will nun eine schlagkräftige Truppe aufbauen. «Wir sind immer noch nicht gut organisiert, und unsere rund tausend Mitglieder haben noch kaum militärisches Training erhalten», sagt Lamsa. «Aber wir werden eine richtige Streitmacht, die uns vor allen möglichen Bedrohungen schützen kann.» Neben Lamsa unterstützen auch andere, teilweise sehr wohlhabende Europäerinnen und US-Amerikaner mit assyrischen Wurzeln die syrischen ChristInnen.

Die Uneinigkeit innerhalb der syrisch-christlichen Minderheit bedauert Emmanuel Lamsa und schreibt sie Assad zu: «Wieder einmal hat es das Regime geschafft, eine Gemeinschaft entlang von Loyalitätslinien zu spalten.» Doch noch immer sei er zuversichtlich, dass das Regime fallen wird – es sei Teil des US-Projekts des «New Middle East», mit dem die Nahostregion systematisch fragmentiert werden solle. Als im Libanonkrieg 2006 die israelischen Streitkräfte gegenüber der Hisbollah die Oberhand gewannen und der Libanon im Chaos versank, verkündete die damalige US-Aussenministerin, Condoleezza Rice, in Tel Aviv, es entstehe gerade ein «neuer Naher Osten», und die USA sollten sicherstellen, dass es kein Zurück zur alten Ordnung gebe.

Doch zu einer solchen Fragmentierung tragen zurzeit vor allem Lamsa und die zahlreichen anderen ausländischen Militärinstruktoren und Kämpfer bei. Sie stehen für eine Entwicklung, in der die ursprünglichen Prinzipien der Revolution immer mehr verblassen. Längst geht es nicht mehr um eine Zukunft aller SyrerInnen. Stattdessen setzen sich ethnisch-religiöse Gemeinschaften oft nur noch für ihre eigenen Interessen ein.

In mehreren syrischen Regionen sind so informelle Streitkräfte entstanden, die ausschliesslich bestimmte Ethnien oder religiöse Strömungen repräsentieren. Im Nordosten des Landes versucht etwa auch der kurdische Nachrichten- und Sicherheitsdienst Asayish, die Gemeinschaft der gut zwei Millionen KurdInnen zu schützen. Ähnlich wie die Sutoro wird er von den regimetreuen Lokalregierungen in Kamischli und Hasaka toleriert, da er sich nicht offensiv gegen das Regime wendet. Die militärische Führung liegt bei Kommandanten der türkischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die aus den irakischen Kandilbergen nach Syrien gelangt sind. Ihr Ziel liegt vor allem darin, eine Selbstverwaltung zu erreichen, und weniger darin, das Assad-Regime zu stürzen.

Noch klarer zeigt sich die ethnisch-religiöse und staatszersetzende Tendenz im syrischen Konflikt anhand der al-Kaida-nahen Nusra-Front, die neben der Nationalen Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte gegen das Regime kämpft. Ihre Anführer und Kämpfer stammen meist aus anderen muslimischen Ländern. In ihrer Zukunftsvision hat ein syrischer Staat keine Bedeutung, ausser dass er einem neuen islamischen Kalifat weichen müsste. Nicht eine syrische Revolution liegt somit im Interesse der Nusra-Front, sondern die ausschliessende Herrschaft sunnitisch-islamistischer Hardliner.

In diesem Drama sind die führenden assyrischen Kräfte einfach weitere sektiererische Akteure unter vielen. Für das westliche Publikum wirkt eine christliche Miliz vielleicht beruhigender als ihre islamistischen Pendants. Aber die assyrischen Kräfte sind genauso dabei, Syriens religiöse und ethnische Vielfalt zu zerstören. Der SUP geht es gemäss ihrem stellvertretenden Generalsekretär, Said Melki, prioritär um den Kampf gegen die «Auslöschung des assyrischen Volks».

Die Sutoro wurde wegen dieser Priorität gegründet. Emmanuel Lamsa soll deshalb die assyrische Truppe für jegliche Konfrontationen mit den anderen Gemeinschaften vorbereiten. «Ich habe persönlich gesehen, wie vereint wir sind, wenn es um die Verteidigung unserer Stadtteile in Kamischli geht», sagt der Ausbildner aus der Schweiz. «Vor einigen Monaten haben zwei arabische Kerle einige assyrische Jugendliche angegriffen; innerhalb von zwei Stunden waren die Strassen voller bewaffneter Assyrer.»

Parallelen im Libanon

Die aktuelle Entwicklung innerhalb der assyrischen Gemeinschaft erinnert in beunruhigender Weise an rechtsgerichtete christliche Gruppierungen im Libanon während des dortigen Bürgerkriegs (1975 bis 1990). Diese liessen sich in Israel militärisch schulen, um – wie es offiziell hiess – das libanesische Christentum vor arabischem und palästinensischem Nationalismus zu schützen. Faktisch heizte dies den Konflikt nur weiter an und diente ausländischen Interessen.

Es war wohl nicht seine Absicht. Aber Emmanuel Lamsa, der Schweizer Unteroffizier, ist letztlich nicht nach Syrien gegangen, um den syrischen Aufstand zu unterstützen. Stattdessen hat er sich in der Stadt Kamischli niedergelassen, über die das Assad-Regime die volle Kontrolle hat. Und er treibt die zunehmend sektiererischen Auseinandersetzungen voran und damit auch die Fragmentierung des Nahen Ostens entlang konfessioneller Grenzen.

Aus dem Englischen von Markus Spörndli.

* Name von der Redaktion geändert.

In der Schweiz strafbar

Sollte der Schweizer, der die sy­ria­ki­sche Streitmacht ausbildet (vgl. Haupttext), wieder einmal in die Schweiz zurückkehren, muss er mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen.
Nach Auskunft des Armeesprechers verstösst «ein aktiver oder ehemaliger Angehöriger der Schweizer Armee durch eine nicht bewilligte Teilnahme an fremdem Militärdienst gegen geltende Gesetze».
Als «fremder Militärdienst» gilt dabei laut Schweizer Militärjustiz nicht nur der Dienst für ausländisches Militär, sondern auch der Dienst «in Kampfverbänden politischer Parteien, in For­ma­tio­nen Freiwilliger, in militärisch organisierten Untergrundbewegungen».

Die Assyrerinnen : Zwischen Konfessionen und Nationalismus

Christliche AssyrerInnen leben heute vor allem in den westasiatischen Staaten Irak, Iran, Syrien, Türkei und Libanon. Daneben gibt es eine Diaspora in Europa und Nordamerika. Als AssyrerInnen gelten gemäss einem Bericht der deutschen Gesellschaft für bedrohte Völker die Nachfahren der orthodoxen ChristInnen des Nahen Ostens, die seit dem 3. Jahrhundert selbstständige Kirchen gründeten und im Gegensatz zur orthodoxen byzantinischen Reichskirche nicht das Griechische, sondern das Syrische als Liturgie- und Theologiesprache verwendeten. Viele heutige AssyrerInnen führen ihre Geschichte auf die altorientalischen Assyrerinnen, Babylonier und Aramäerinnen zurück, die ab dem 3. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung in Syrien und Mesopotamien lebten.

Die assyrischen ChristInnen haben sich schon bald in zwei selbstständige Kirchen und schliesslich in fünf Konfessionen aufgespalten, darunter die chaldäische und die syrisch-katholische Kirche (die beide im römisch-katholischen Verbund sind) sowie verschiedene evangelische Kirchen. Mit dem Aufkommen des modernen Nationalismus im Europa des 19. Jahrhunderts und seiner Verbreitung in Asien und Afrika kam es Anfang des 20. Jahrhunderts auch unter den syrischen ChristInnen zu einer nationalen Bewegung. Grosse Teile der syrischen ChristInnen bezeichnen sich heute als AssyrerInnen, ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu den verschiedenen Konfessionen.

Baschar al-Assads Regierung vertritt gemäss der Weltanschauung der Baath-Partei einen säkularen Panarabismus. Die AssyrerInnen sind im modernen Syrien deshalb lediglich als ChristInnen anerkannt, nicht jedoch – wie sie fordern – als eigenständiges Volk.

Markus Spörndli