Kommentar von Toni Keppeler: Muskelspiele am Verhandlungstisch

Nr. 35 –

Die Friedensverhandlungen im kolumbianischen Bürgerkrieg werden lange und zäh werden. Militärische Machtdemonstrationen sind ein Teil des Spiels.

War da ein Krise? Am vergangenen Freitag hatten die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Farc) angekündigt, sie würden sich auf unbestimmte Zeit vom Verhandlungstisch im kubanischen Havanna zurückziehen. Am Samstag legten sie einer Einheit der Regierungsarmee einen Hinterhalt, dreizehn Soldaten wurden getötet. Für einen Moment mutmassten die Medien, das Ringen zwischen der ältesten Guerilla Lateinamerikas und den VertreterInnen des konservativen kolumbianischen Präsidenten, Juan Manuel Santos, um einen Friedensvertrag stehe vor dem Scheitern. Doch schon am Sonntagabend verlautbarte die Farc, man kehre an den Verhandlungstisch zurück. Am Montag sassen die beiden Delegationen wieder beisammen.

Es war nur ein kleiner Warnschuss. Die Farc musste zeigen: Wir können auch anders. Santos hatte ohne Absprache angekündigt, er werde einen einmal erreichten Friedensvertrag dem Volk zur Annahme oder Ablehnung vorlegen, und zwar am 9. März 2014, dem Tag der nächsten Parlamentswahl, oder am darauffolgenden 25. Mai, dem Tag der Präsidentschaftswahl. Santos wird da mutmasslich zur Wiederwahl antreten. Er braucht einen vorzeigbaren politischen Erfolg.

Der Präsident hat mit diesem Vorstoss versucht, die Farc unter Zeitdruck zu setzen. Und er weiss: Je schlampiger ein Vertragswerk formuliert ist, desto günstiger ist das für ihn und die von ihm repräsentierte wirtschaftliche und politische Elite des Landes. Die Farc dagegen hat Zeit. Sie führt schon seit fünfzig Jahren Krieg, auf eines mehr kommt es ihr nicht an. Und sie wollte zeigen: Wir sind militärisch noch immer stark. Seit dem natürlichen Tod ihres legendären Gründers Manuel Marulanda im März 2008 und dem gewaltsamen Tod seines Nachfolgers Alfonso Cano bei einer Militäroperation im November 2011 versucht Santos, die Guerilla als dahinsiechende Truppe darzustellen und die Friedensverhandlungen als fast schon humanitären Akt.

Solche Propaganda- und Muskelspiele sind üblicher Teil von Friedensverhandlungen. Am deutlichsten wurde das in El Salvador, wo sich die damalige ultrarechte Regierung unter Alfredo Cristiani im September 1989 in Mexiko mit VertreterInnen der Nationalen Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN) zum ersten Mal zu Verhandlungen traf. Auch Cristiani wollte das als Entgegenkommen, fast als Gnadenakt erscheinen lassen. Die FMLN reagierte daraufhin mit ihrer grössten Offensive. Im November 1989 war eine Woche lang die halbe Hauptstadt von der Guerilla besetzt, auch die Viertel der Reichen.

Die Offensive war nötig, um auf Augenhöhe verhandeln zu können. Am 16. Januar 1992 wurde dann das beste Vertragswerk unterschrieben, das in Lateinamerika je zwischen einer Guerilla und einer Regierung ausgehandelt worden ist. Die vorher uneingeschränkte Macht der Militärs wurde gebrochen, die politische Teilhabe der FMLN garantiert. Heute stellt sie die Regierung. Nur in Wirtschaftsfragen war die Guerilla unerfahren – was zur Folge hatte, dass der Friedensvertrag dazu im Vagen blieb und der Einfluss der Oligarchie bis heute ungebrochen ist.

Das Gegenbeispiel ist Guatemala, wo eine schwache Guerilla Ende 1996 einen sehr schön zu lesenden Friedensvertrag unterschrieb, der von Regierung und Militärs unter dem Leitspruch aufgesetzt worden war: Alles muss sich ändern, damit alles so bleibt, wie es ist. Ginge es nach dem Buchstaben dieses Abkommens, müsste Guatemala heute ein Land sein, in dem es keinen Rassismus gegen die Mayabevölkerung mehr gibt, kein Elend, dafür einen funktionierenden Rechtsstaat. Das Gegenteil ist der Fall. Es regiert sogar ein General, den Waffenbrüder öffentlich beschuldigt haben, während des Bürgerkriegs Massaker an den Maya angeordnet zu haben.

Die Beispiele zeigen: Ein Friedensvertrag muss nicht schön sein, sondern sehr detailliert, und das braucht Zeit. Und die Guerilla muss Macht haben und – ja – auch militärisches Drohpotenzial, um die Umsetzung eines solchen Vertrags erzwingen zu können. Niemand weiss das besser als die Farc. 1985 hatte sie grosse Teile ihrer kämpfenden Truppe entwaffnet, hatte die linke Partei Unión Patriótica gegründet. Die war vom Staat anerkannt worden, durfte an Wahlen teilnehmen. Doch bis Ende der achtziger Jahre wurden 3000 ihrer Mitglieder ermordet.

Offiziell sind die Todesschwadronen von damals unter Álvaro Uribe, dem Vorgänger von Santos, aufgelöst worden. Aber jeder in Kolumbien weiss, dass das nicht mehr als ein Spektakel für die internationale Öffentlichkeit war und dass die Mörderbanden unter neuen Namen längst wieder existieren. Santos war in den Jahren 2006 bis 2009 Uribes Verteidigungsminister. In diese Zeit fällt der Skandal der sogenannten «falsos positivos»: Militäreinheiten hatten über tausend wehrlose ZivilistInnen ermordet, sie in Uniformen gesteckt und sie dann als im Kampf getötete WiderstandskämpferInnen präsentiert. Santos war der politisch Verantwortliche dieser Morde. Die Farc wäre fahrlässig, würde sie so einem Mann vertrauen. Sie wird im Lauf der Verhandlungen noch öfter zeigen müssen, dass sie im Notfall auch anders kann.