Freie Musikszene in Japan: Manchmal tritt sie als Baguette Bardot auf

Nr. 36 –

Wer in Japans freie Musikszene eintaucht, stösst auf eine gewaltige Experimentierfreude – und auf Schweizer Bands, die darin mitmischen. Auf Entdeckungsreise in Tokio und Kyoto.

Schriller Ritt: Die Gruppe Hihokan («Haus der verborgenen Schätze» bezeichnet auch die in Japan verbreiteten Sexmuseen) am «Jazz Ar+ Sengawa»-Festival in Sengawa. Von links nach rechts: Masayo Koketsu, Sato Erika, Takarako Atami alias Baguette Bardot, und Ishii Chizuro.

«Diese Musik ist gefährlich», sagt Koichi Makigami über die Gruppe Hihokan. Makigami ist seit einigen Jahren künstlerischer Leiter von Jazz Ar+ Sengawa, einem unkonventionellen Festival, das während dreier Tage im Juli ziemlich Aufruhr in die beschauliche Vorstadt Tokios bringt. Zur Eröffnung ziehen KünstlerInnen aus allen Sparten in einem bunten Umzug durch die Strassen, vor einem Einkaufszentrum spielt eine Frau im Kimono eine traditionelle Laute, eine andere steppt dazu. Schnell bildet sich eine Menschentraube. Am frühen Abend verlagert sich das Geschehen in den vom Stararchitekten Tadao Ando entworfenen Theaterkomplex, der wie ein futuristischer Schiffsbug aus Sichtbeton aus der Strasse ragt.

Hihokan eröffnen das Festival: Die «gefährliche Musik» der Frauenband entpuppt sich als schriller Ritt durch die Jazzgeschichte. Ihr unbekümmerter Mix aus Klassikern wie «Four in One» von Thelonious Monk, Chansons von Serge Gainsbourg, Kabukitheater, Pop und wilden Free-Jazz-Eskapaden kommt gut an. Das liegt nicht zuletzt an der Sängerin Takarako Atami, die gelegentlich auch als Baguette Bardot auftritt. Sie entert die Bühne im aufreizenden Outfit einer Burlesque-Tänzerin, bewegt sich charmant, aber etwas wacklig auf High Heels. Die Altsaxofonistin Masayo Koketsu macht auf Manga-Punk und röhrt gelegentlich hymnisch wie Albert Ayler. Derweil halten sich die Bassistin Sato Erika und die Perkussionistin Ishii Chizuro schon beinahe stoisch im Hintergrund.

Orte der Experimentierfreude

Die vom Schlagzeuger Ryo Saito und dem Pianisten Dairo Suga vor drei Jahren initiierte Frauenband hat in der männerdominierten japanischen Jazzszene wenige Parallelen. Das gilt auch für das Jazz Ar+ Sengawa – es sei ein für Japan einzigartiges Festival, verraten japanische MusikjournalistInnen ihrem Schweizer Kollegen im Gespräch: ein Festival für abenteuerliche Musik, Performance, Malerei und vieles andere mehr.

Festivalbegründer Makigami selbst ist ein begnadeter Vokalkünstler und Multiinstrumentalist, der unter anderem die Bambusflöte Shakuhachi und die im Alpenraum verbreitete Maultrommel spielt. Er gehört zu den wenigen, die vom US-Jazz-Avantgardisten John Zorn (siehe WOZ Nr. 21/13 ) autorisiert sind, dessen improvisatorisches «Cobra»-Konzept auf die Bühne zu bringen. In Sengawa hat Makigami das mit grossem Erfolg getan: Die für dieses Projekt zusammengestellte zwölfköpfige Truppe agierte mit Tablas, Steel Drum, Gitarren und anderen Instrumenten voller Verve und sichtlicher Freude an den Resultaten. Mit seiner eigenen Gruppe Hikashu ist Makigami seit den achtziger Jahren unterwegs. Wahrscheinlich aber ist das, was Hikashu aufführen – wie bei Hihokan –, gar kein Jazz mehr, sondern einfach Musik, die Spass macht und Einflüsse aus aller Welt unter einen Hut bringt.

Für das Jazz Ar+ Sengawa hat Makigami neben den weitgehend einheimischen MusikerInnen und KünstlerInnen auch die von Marcel und Ravi Vaid initiierte Gruppe Superterz eingeladen. Die umtriebigen Brüder aus Zürich hatten 2012 das Werkjahr der Stadt erhalten. Dank zusätzlicher Unterstützung von Pro Helvetia und anderen sind sie diesen Sommer auf Japantour. Bei ihren Auftritten in Tokio, Nagoya, Kobe, Osaka und Kyoto spielen sie mit dem Schlagzeuger Simon Berz und dem in Tübingen lebenden Koho Mori-Newton, der mithalf, in seiner alten Heimat einige Türen zu öffnen.

Dabei meiden sie die Bühnen der Clubs konsequent und setzen stattdessen auf eine Spielanordnung, bei der die Band inmitten des Publikums spielt. Ihr abgedunkeltes Klanglabor erscheint wie ein Flughafen in der Nacht, aus grosser Höhe betrachtet: Allerlei analoge und elektronische Gerätschaften zwischen «do it yourself» und Hightech blinken angeordnet in einem Kreis. Sie kontrastieren mit der Gitarre und dem trickreich verstärkten Schlagzeug, die Musik wird herangezoomt, wechselt die Perspektive.

In Tokios «La Mama» sind es die entspannten Reggaerhythmen von Superterz, die überraschen und hängen bleiben. Sie wirken wie Balsam, nach dem brachial-industriellen Eröffnungskonzert des kultigen Noise-Künstlers Merzbow. Seine Lautstärke hat – und das wissen die Flanierenden in Tokios Stadtpärken zu bestätigen – sogar die sirrenden Gesänge der Zikaden übertroffen, die in höchster Intensität den Sommer begrüssen. Zwei Tage später, im wesentlich gediegeneren «Super Deluxe», findet die deutlich intensivere Klangarchitektur der Band frei improvisierend zu eindrücklicher Geschlossenheit. Das grosse Finale wird schliesslich im «Urbanguild» in Kyoto veranstaltet, einem etwas versteckt liegenden Konzertlokal im zweiten Obergeschoss, das eher wie ein Keller wirkt.

Nie langweilig

Die Szenen, in denen sich diese experimentierfreudigen und waghalsigen MusikerInnen bewegen, scheinen in Japan genauso wie in andern westlich geprägten Grossstädten der Welt – unabhängig von der EinwohnerInnenzahl – etwa gleich gross. Die Zahl der BesucherInnen steigt selten über hundert, und in der Regel wird viel Gratisarbeit geleistet. Daran ändert auch nichts, wenn – wie in Japan – in vielen Restaurants und Bars anspruchsvoller Jazz von Charlie Parker, Miles Davis oder Eric Dolphy gespielt wird oder Honda einen Kleinwagen «Jazz» tauft.

Trotzdem stossen immer wieder neue Orte in diesen globalen Rhizomen der freien Musik ans Licht. Yoshiyuki Suzuki verfolgt mit dem Club Ftarri einen noch radikaleren Ansatz als Makigami mit Jazz Ar+ Sengawa. Der einfache Kellerraum in einer ruhigen Nebenstrasse nahe dem Einkaufs- und Vergnügungspark Tokyo Dome ist nicht nur Konzertraum, sondern auch ein unregelmässig geöffneter Plattenladen: Suzuki betreibt ein gleichnamiges CD-Label. Im August hat er das einjährige Bestehen von «Ftarri» mit zwei Konzertwochenenden gefeiert.

Auf dem Programm stehen ein rundes Dutzend Duoprojekte. Meistens spielt ein Instrumentalist zusammen mit einer Musikerin, die mit Laptop oder billiger Elektronik zugange ist. Sounds zwischen Musique concrète und Ambient, manchmal sogar jazzig, gelegentlich nervig, immer radikal – aber niemals langweilig.

Auf sein Konzept angesprochen, meint Suzuki: «Die Kunst des Duos» – so könne man «Ftarri» auch übersetzen. Für den über achtzigjährigen Musikpublizisten Teruto Soejima, immer noch ein fleissiger Konzertgänger und sensibler Beobachter der freien Szene und der Jazzszene, ist klar: «‹Ftarri› ist der momentan musikalisch spannendste und experimentierfreudigste Ort in ganz Japan.»

Suzuki drückt mir eine Kundenkarte in die Hand und sagt: «Die ist so lange gültig, wie es ‹Ftarri› gibt.»